Tradition versus Fortschritt
Wie sich Mumbais Fischer-Siedlung Chimbai in der Megacity behauptet
Die Koli-Siedlung Chimbai im Herzen der indischen Metropole Mumbai ist über 400 Jahre alt. Obwohl sie längst Teil der Millionenstadt ist, hat sie ihren dörflichen Charme erhalten. Hindus und Christen leben hier Tür an Tür, unweit der Villen von Bollywood-Stars in Pali Hill oder Andheri. Ein Spaziergang durch das alte Fischerdorf.
Von Natalie Mayroth
Den Beginn von Chimbai Village markiert die Kirche St. Andrew, die bekannt ist für ihre Sprüche an Tafeln. Auf der Chimbai Road angekommen, hat man sofort das Horn der Autos und Rikschas in den Ohren. Die Fahrzeuge drängeln sich hupend durch die Verbindungsstraße, die von der Kirche St. Andrew Richtung Norden bis zum Jogger Park an der Carter Road führt. Links der Chimbai Road reihen sich Fischerhütte an Bungalow, Bungalow an Hochhaus. Dazwischen kleine Läden, das Hotel Usha, ein Friseur, ein Tempel, eine Jesus-Statue und hinter der Häuserfront das Arabische Meer.
Rechts davon dicht an dicht gebaute einfache mehrstöckige Häuser, die die Straße säumen. In ihnen haben Fischerfamilien, Schneider und eine Wäscherei ihr Zuhause gefunden. Die Straße, sie ist kaum breit genug für Autos. Dennoch spielt sich hier das ganze Leben der Siedlung ab.
Ein Wohnviertel verändert sich
An der Hauptstraße trifft man tagsüber auf die Koli-Frauen. Manche verkaufen in Öl Gebratenes. Andere haben vor sich Fische, Krebse und Meerestiere, die sie zum Verkauf anbieten, ausgebreitet. „Es war hier sehr friedlich, als ich jung war“, sagt Lina Falcon, 43. „Es gab kaum Gebäude, nur ein paar einstöckige Bungalows“. Doch das Viertel hat sich enorm verändert.Falcon kommt aus einer der christlichen Fischerfamilien aus Chimbai. Sie lebt in einem der Häuser direkt am Meer. Während ihr Mann auf einem Ölfeld im Persischen Golf Schicht arbeitet, geht ihr Sohn vor der Schule zum Fischen. Zwei Körbe bringt er heim. Falcon verkauft sie am darauffolgenden Tag am Markt im Süden Mumbais. Früher waren es 70 bis 80 Körbe. Damals, als die Männer morgens um 4.30 Uhr in See gestochen sind. Doch der Fischbestand hat abgenommen. Einer der Gründe ist die zunehmende Verschmutzung der Umwelt. Immer weiter müssen sie deshalb ins Meer rausfahren. Das machen nicht mehr alle mit.
Zwei Religionen Tür an Tür
Und dank besserer Schulbildung müssen sich die Bewohner nicht mehr ausschließlich auf das Meer verlassen, erzählt Nishant Chimbaikar. Der 26-Jährige Koli gehört zur jungen Generation. Er und seine Cousinen und Cousins arbeiten nicht mehr wie ihre Väter und Onkel auf dem Meer, sondern in der Hotellerie, im Service oder der Kreativindustrie. Chimbaiker gehört mit seiner Familie zur zweiten Religionsgruppe in Chimbai.Die Bevölkerung des Villages besteht vor allem aus christlichen ‚East Indian’ und hinduistischen ‚Marathi’ Kolis, beide einst Fischer. Wer wo wohnt, ist mehr als sichtbar. Die Hauseingänge der Hindu-Koli-Familien zieren der Elefantengott Ganpati, aus Buntsand gestreute Mandalas oder Fliesen mit dem Guru Sai Baba. Letzterer ist ein verehrter Mann in orangefarbenem Gewand, dessen Kopf von einem Heiligenschein umgeben ist. In den Gassen der christlichen Familien begegnen einem Jesus – meist am Kreuz – und Marienstatuen; manchmal auch als Wandfliesen.
Zwischen Mango- und Kokosnusshainen
„Kolis sind die ursprünglichen Bewohner Mumbais“, erzählt Pater Caesar De Mello, dessen Großmutter aus Chimbai kommt. Doch sie sei damals in die Stadt gezogen, um am Fortschritt Bombays (heute Mumbai) teilzuhaben. „Es waren vor allem Katholiken, die hier gelebt haben“, sagt Ceasr, der im Dienste der Gemeinde St. Andrew steht. Später erst seien Hindus und dann Muslime dazugekommen.Das steht in Verbindung mit der Kolonialgeschichte Indiens. Die Bewohner Chimbais wurden im 15. Jahrhundert unter dem Jesuiten Bruder Manoel Gomes missioniert. Bombay bestand damals aus sieben sumpfigen Inseln, die später zu einer aufgeschüttet wurden. 1534 kam die Insel Salcette, auf der sich Bandra und Chimbai befinden, unter portugiesische Herrschaft. So lässt es sich bei St. Andrew nachlesen. Zur Gründung der Kirche, die zwischen 1575 und 1616 datiert wird, bestand Bandra noch aus 24 ländlichen Fischer- und Bauerndörfern. Getrennt waren sie durch ausgedehnte Kulturlandschaften, Mango- und Kokosnusshaine. Dieser Charme wirkt nach. Auch wenn die malerische Unberührtheit mit den Anbauflächen verschwunden ist.
Die Idylle schwindet
Man sagt, Chimbai hatte einen der begehrtesten Strände Mumbais. Einem, an dem man schwimmen konnte, erinnert sich der Indo-Brite Bonzo. Er wurde in einem Eckhaus in Chimbai geboren. „Vor 20, 25 Jahren hat sich das Viertel am meisten verändert“, berichtet er. Der 85-Jährige trägt ein weißes T-Shirt mit Fransen, Shorts, und seine Socken reichen bis hoch zu den Waden. Er gehört der älteren Generation an, die noch immer vom einst idyllischen Chimbai schwärmt.Doch Mumbai ist zur Megacity herangewachsen. Das ist nicht spurlos an Chimbai vorbeigegangen. Seit der Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien 1947 nimmt das Bevölkerungswachstum stetig zu. Die Metropolregion ist mit mehr als 20 Millionen Einwohnern eine der bevölkerungsreichsten der Welt. Zugleich ist sie vielfältig und extrem: Arm und Reich leben nebeneinander. Manchmal nur einen Straßenzug voneinander entfernt.
Kampf dem Müll
Es gibt Initiativen, das Bild des Fischerdorfes zu modernisieren. Denn längst ist Chimbai nicht wie die umliegenden Viertel Ranwar oder Pali Hill, die zu den teuersten Wohngegenden Indiens zählen, hergerichtet.Der Müll macht den Menschen zu schaffen. Die ersten Strand-Aufräum-Aktionen organisierten Standverwaltung, Studenten und die Kirche. Aber auch Prominente wie dem Chimbaikar Cricketspieler Sachin Tendulkar wurden aktiv. Doch es wird mehr brauchen. Denn immer wieder werden Plastik und anderer Unrat von den Wellen angespült. Dennoch denken viele wie der junge Nishant Chimbaikar: “Chimbai ist alles für mich. Wir haben alles, was wir brauchen”.
Für manche wirkt Chimbai wie eine Antithese zur Stadt: Die Menschen kennen sich und sind verbunden durch ihre religiöse Identität. Auch wenn sich das Leben herum dreht, rasant dreht – Chimbai ist immer noch ein verträumtes Dorf, auf dessen Straßen es laut und geschäftig zugeht.
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