Geschlechterrollen
Männlichkeit als Tanz
Von Mandeep Raikhy
Im Tanz kann man bewusst auswählen, was man lernen möchte, von wem, wie lange und dergleichen mehr. Diese Entscheidungen und die ihnen zugrundeliegenden Mechanismen sind im Falle des Tanzes sehr viel offensichtlicher. Eine Geschlechterrolle hingegen eignet man sich an, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Man erhält sie nicht nur durch ein*e Lehrer*in übermittelt, sondern aus allen möglichen Quellen: von Eltern, Verwandten, Gleichaltrigen, Lehrer*innen; aus dem Fernsehen, der Mythologie, den Nachrichten, Büchern, Musik, Filmen. Die Weitergabe von Geschlechterrollen beruht auf einem komplexen System, das sehr früh ansetzt. Jeder soziale Kontakt ist eine Lehrstunde und man beginnt die Lektionen umzusetzen, sobald man laufen und sprechen kann.
Ich erinnere mich, wie ich, bevor ich meinen Gang vor den anderen Kindern darbot, all meine Konzentration darauf verwandte, ja nicht mit den Hüften von Seite zu Seite zu wackeln. Ich weiß nicht mehr, wie das Urteil der Jury ausfiel, aber es dauerte 25 Jahre, bis ich beginnen konnte, diese Erfahrung zu verarbeiten und für mich einzuordnen. Erst als ich 2013 mit der Arbeit an meiner Choreografie a male ant has straight antennae begann, wurde mir klar, welche Auswirkungen der Vorfall auf dem Spielplatz auf mich gehabt hatte. Ich blickte zurück auf meine prägenden Jahre und erkannte, wie ich stets den Erwartungen, Anweisungen und Korrekturen anderer Menschen, wie ich meine Männlichkeit auszudrücken hätte, ausgewichen war, .
In einer Gruppe von sieben Tänzer:innen machten wir uns an eine Studie zur Maskulinität an der Schnittstelle von Tanz, Geschlecht und Performance. Von Beginn an war es meine Absicht als Choreograf, Möglichkeiten zu finden, die Mechanismen der Übermittlung von Geschlechterrollen sichtbar zu machen, denen wir alle unausweichlich ausgesetzt sind. Gerade, weil Tanz und Geschlechterrollen so weitreichende Parallelen aufweisen – sie beide stützen sich jeweils auf ein komplexes Ausbildungssystem, das den Körper in seiner Ausdrucksform prägt – bietet der Tanz eine Linse, durch die wir Maskulinität untersuchen können.
Kann eine Männlichkeit, die durch den und als Tanz betrachtet wird, in Bewegung und im steten Fluss bleiben? Kann sie als Prozess verstanden werden, fortwährend in ihrer Auflösung und Neuformulierung begriffen? Bei der Ausarbeitung und Aufführung von a male ant has straight antennae kamen verschiedene Fragen auf.
Wie sprechen wir Vorstellungen von Männlichkeit an, die sich im Augenblick des zwischenmenschlichen Kontakts manifestieren? Wie offenbart sich Geschlecht auf der Oberfläche der Haut? Wenn wir jemandem die Hand schütteln, wird dieser Moment zur Bühne unserer Maskulinität? Welche Arten von Berührungen bedrohen unsere Vorstellung von Männlichkeit? Wenn ich jemanden sanft, voller Zärtlichkeit und Vorsicht anfasse, erlebe ich einen inneren Konflikt mit meiner Männlichkeit? Ruht meine Darbietung von Maskulinität, wenn ich mich unbeobachtet fühle?
* Butler, Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
© Chandni Sarcar Mandeep ist Tänzer und Choreograf. Sein Interesse gilt den Schnittpunkten von Tanz, Performance, Soziologie und Pädagogik. Er begann sein Studium des Jazztanzes mit 19 Jahren am Danceworx in Neu Delhi. Danach führte ihn seine Begeisterung für zeitgenössischen Tanz nach London, wo er sein Studium am Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance mit einem Bachelor in Tanztheater abschloss. Von 2005 bis 2009 war er mit der Shobana Jeyasingh Dance Company aus London auf Tour. Mandeep hat mehrere Choreografien geschaffen, darunter Inhabited Geometry (2010), a male ant has straight antennae (2013) und Queen-size (2016). Diese Stücke wurden international aufgeführt, unter anderem am Kampnagel, South Bank Centre und dem Singapore International Arts Festival.
© Chandni Sarcar Seit 2009 ist Mandeep Geschäftsführer am Gati Dance Forum. Er arbeitet in dieser Rolle daran, eine Infrastruktur für zeitgenössischen Tanz in Indien zu entwickeln, durch Projekte wie Stipendien, Festivals, Veröffentlichungen und Öffentlichkeitsarbeit. Derzeit unterrichtet er als Assistenzprofessor an der Ambedkar University in Neu Delhi ein Programm in Performance Practice (Dance). Der praxisorientierte Masterabschluss in Tanz, den es bietet, ist der erste seiner Art in Südasien.