Ein Blick hinter die Kulissen
Cricket in Deutschland
Cricket-Fans könnten meinen, in Deutschland auf ihren Lieblingssport verzichten zu müssen. Doch weit gefehlt: Mit über 300 Vereinen erlebt Cricket hier einen wahren Boom und stellt den Ruf des Landes als Fußballnation in Frage. Der ehemalige Kapitän der deutschen Cricket-Nationalmannschaft, Venkatraman Ganesan, gewährt uns in diesem Artikel Einblicke in die wachsende Cricket-Szene Deutschlands.
Von Saurabh Narang
Die lange Cricket-Tradition Deutschlands reicht zurück bis ins 18. Jahrhundert. Insbesondere in Berlin gab es eine florierende Cricket-Szene, deren Entwicklung durch den Ersten Weltkrieg jedoch ein jähes Ende fand. Nach dem Krieg verlor der Sport zunehmend an Bedeutung und wurde erst durch die britischen Streitkräfte wiederbelebt.
Mit den Einwanderungswellen aus Asien in den 1960er und 1970er-Jahren kam auch ein neuerliches Interesse am Cricket nach Deutschland. Was wiederum die Gründung des neuen Deutschen Cricket Bunds (DCB) zur Folge hatte, der ganz maßgeblich zum Wiederaufleben der Cricket-Kultur in Deutschland beigetragen und sich 1999 schließlich auch dem International Cricket Council angeschlossen hat.
Cricket gewinnt in Deutschland immer mehr an Bedeutung. Die Zahl der Cricket-Mannschaften ist in den vergangenen Jahren von nur 70 auf heute über 300 rasant gestiegen. Eine Entwicklung, die vor allem auf die Zuwanderung aus Ländern wie Afghanistan und Indien zurückzuführen ist, wo sich Cricket großer Beliebtheit erfreut.
Auf dem Spielfeld: Deutschland gegen Norwegen im Cricket
„Yeh aaney wala hai“ (los geht’s) und „shabaash“ (gut gemacht) skandierte das erwartungsfreudige Publikum im Cricket-Jargon am Spielfeldrand im nordrhein-westfälischen Krefeld, wo die Nationalmannschaften von Deutschland und Norwegen in einem der entscheidenden europäischen Qualifikationsspiele für den Cricket T20 World Cup gegeneinander antraten. Auch wenn die Zuschauertribünen nur locker gefüllt waren, hatte sich eine große Zahl treuer Fans eingefunden, um die beiden Mannschaften anzufeuern.„Cricket verbindet Menschen“, sagt die in Norwegen lebende Inderin Soly. Sie ist da, um ihren Ehemann Vinay anzufeuern, der für Norwegen spielt. „Auch fern der Heimat schafft der Sport eine Gemeinschaft.“
Soly ist nicht allein. Der Cricket-Sport, einst ein Nischensport in Deutschland, erfreut sich dank leidenschaftlicher Einwanderer*innen wie Biji, die nur ein Jahr nach ihrer Einreise einen neuen Verein für ihren Sohn gefunden hat, einer wachsenden Zahl von Anhänger*innen. „Wir haben uns große Sorgen gemacht“, sagt Biji, „doch zum Glück haben wir einen Verein gefunden, den der deutsche Kapitän persönlich leitet!“ Ihr Sohn, ein talentierter junger Spieler, nimmt inzwischen an Bundesligaspielen teil.
VENKAT IM FOKUS – EHEMALIGER KAPITÄN der deutschen Cricket-Nationalmannschaft
Was ist dein beruflicher Hintergrund? Wie bist Du nach Deutschland und hier wiederum zum Cricket gekommen?
Ich arbeite auf Führungsebene bei Henkel, wo ich eine IT-Abteilung für SAP-Technologie leite. Über die interne Jobvermittlung durch Accenture in Indien bin ich 2012 nach Deutschland gekommen. Der Umzug verlief relativ reibungslos, weil ich bereits einen Arbeitsplatz hatte und von meinem Arbeitgeber unterstützt wurde. Seit 2017 habe ich für das deutsche Cricket-Team gespielt, ab 2019 war ich Kapitän des Teams, und erst kürzlich habe ich meinen Rückzug aus dem internationalen Cricket angekündigt.
Hast du schon in Indien gespielt, bevor du nach Deutschland gekommen bist und hier wieder angefangen hast?
Ja. Ich habe für Tamil Nadu in den verschiedenen Altersklassen – unter 14, 16 und 19 – gespielt. Außerdem habe ich für Tamil Nadu in der Ersten Liga gespielt. Damals war diese Liga eine Art Eintrittskarte zum Ranji Trophy (dem nationalen First-Class-Cricket-Wettbewerb in Indien). Bis 2006 habe ich also an meiner Karriere als Profi-Cricketspieler gearbeitet. Danach habe ich allerdings beschlossen, mich auf meine Karriere als Ingenieur zu konzentrieren. Dann bin ich nach Deutschland gezogen, wo zu meiner freudigen Überraschung schon eine aktive Cricket-Szene auf mich wartete.
Wie hat sich deine Cricket-Karriere in Deutschland entwickelt?
In den ersten drei Jahren habe ich Cricket nur am Wochenende als Hobby gespielt. Dann wurde in Deutschland ein nationaler Wettbewerb ähnlich der indischen Ranji Trophy ins Leben gerufen. Es gab die Super Series mit Mannschaften aus verschiedenen Landes- und Regionalverbänden. Das hat mein Interesse geweckt, und ich spielte seitdem für die Western Eagles aus Nordrhein-Westfalen. Dadurch wurde die Cricket-Nationalmannschaft, die aus den 24 besten Spielern Deutschlands besteht, auf mich aufmerksam. Diese Spieler werden aufgrund ihrer Leistungen in ihren Heimmannschaften in verschiedenen Bundesländern ausgewählt. Im allerersten Spiel habe ich gleich hundert Runs erzielt. Das entging auch dem Trainer nicht und wurde zu meiner Eintrittskarte in die deutsche Nationalmannschaft.
Was ist deine schönste Erinnerung an deine Spiele für die deutsche Nationalmannschaft?
Im Jahr 2021 haben wir uns für das ICC Regionsfinale Europa qualifiziert und sind damit der Weltmeisterschaft ein Stück näher gerückt. Es war eines der Highlights in meiner Zeit als Kapitän, als ich mit Deutschland zum ersten Mal an WM-Qualifikationsspielen teilnehmen durfte. Im Folgejahr hatten wir eine großartige Zeit in Oman bei Spielen gegen die Mannschaften aus Irland, den VAE und Kanada, mit denen wir uns einen harten Kampf geliefert haben.
Beruflich arbeitest du im IT-Bereich. Unterstützt dein Arbeitgeber deine Cricket-Leidenschaft?
Weder spiele ich Cricket beruflich, wegen meines IT-Jobs, noch erhalte ich eine besondere Unterstützung. Ich bin meinem Unternehmen sehr dankbar dafür, dass sie mir einen Sonderurlaub von 10 zusätzlichen Urlaubstagen neben meinem normalen Urlaubsanspruch gewähren. Das ist nicht selbstverständlich, und ich bin dafür sehr dankbar.
Hat dir Cricket bei deiner Integration in die deutsche Gesellschaft geholfen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass viele Cricket-Spielende in Deutschland Geflüchtete aus Afghanistan sind?
Cricket ist für Arbeitsmigrant*innen nicht unbedingt ein Integrationsfaktor. Allerdings bietet es die Möglichkeit, weiterhin mit dem Sport in Verbindung zu bleiben, den du in deiner Heimat geliebt hast. In der deutschen Nationalmannschaft spielen Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen. Das macht ihre Stärke aus. Wir alle bringen unterschiedliche Spielweisen in die Mannschaft ein.
In meinem Fall war Cricket zweifellos einer der Faktoren. Aber nicht der einzige. Eigentlich bin ich wegen der Arbeit nach Deutschland gekommen und hatte deshalb schon einen Kreis aus Kolleg*innen und Freund*innen, die mich bei der Integration und bei den ersten Hürden unterstützt haben. Ein wichtiger Faktor war zu Beginn auch die Sprache. Mit der Zeit habe ich mich allerdings zurechtgefunden und Deutsch gelernt, um mich zumindest in meinem sozialen Umfeld verständigen zu können.
Trotz der fast 300 Cricket-Vereine in Deutschland gibt es in der Nationalmannschaft der Männer nicht viele deutschstämmige Cricketspieler. Woran liegt das?
Erstens ist Cricket ein sehr zeitaufwändiger Sport. Zweitens ist er keine typische deutsche Sportart und muss noch bekannter und beliebter werden.
Mit welchen Herausforderungen haben Cricketspieler in Deutschland zu kämpfen?
Da die meisten von uns keine Profispieler sind und Vollzeitjobs mit einer Arbeitszeit von manchmal 10-12 Stunden am Tag haben, ist es schwer, nach der Arbeit noch zu trainieren. Dies ist ein wichtiger Nachteil gegenüber größeren Mannschaften, in denen die Spieler häufiger trainieren können. Wir haben zwar die spielerischen Fähigkeiten, doch es ist schwer, regelmäßige Trainingseinheiten einzuhalten. Ein weiteres Problem ist die Infrastruktur. In Krefeld gibt es tolle Einrichtungen, doch wir brauchen ähnliche Bedingungen in ganz Deutschland, um unseren Spieler*innen angemessene Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Denkst du, dass Cricket-Spieler in Deutschland ein Vollzeitjob werden könnte?
Wir sind noch nicht ganz so weit. Doch wenn Cricket 2028 tatsächlich eine olympische Disziplin werden sollte, wird sich der Deutsche Cricket Bund (DCB) dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) anschließen. Das heißt, die Chancen stehen gut, dass sich Cricket in Zukunft zu einem „Leistungssport“ mit einnahmeträchtigem Unterhaltungsfaktor entwickeln wird. Ein solcher Prozess vollzieht sich zwar nur langsam und braucht zusätzliche Investitionen, doch wir hoffen, dass sich die Dinge in diese Richtung entwickeln. Das ist ganz entscheidend, wenn wir wollen, dass Spieler*innen Cricket als ernstzunehmende Karriereoption betrachten.
Was ist der Unterschied zwischen Cricket in Indien und Deutschland?
Der ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen Fußball in Deutschland und Cricket in Indien. In Indien ist der Weg für Cricket-Spieler klar vorgegeben. An diesen Punkt müssen wir auch in Deutschland kommen, wenn wir eine realistische Chance haben wollen, uns für Weltmeisterschaften zu qualifizieren.
Welche Bedeutung hat Cricket in Deutschland aus deiner Sicht?
Cricket ist der zweitbeliebteste Sport der Welt, mit einem riesigen Markt. Aus geschäftlicher Sicht würde er gut in die deutsche Sportszene passen. Insbesondere T20-Cricket ist ein Format, das viele Fans finden könnte. Wir müssen also mögliche Wege und Infrastrukturen für dieses Format entwickeln.
Was willst du in Zukunft im Cricket erreichen?
Im Moment habe ich keine konkreten Pläne. Ich habe eine Trainerausbildung (ECB Level 2) und trainiere die Kids in meinem Verein, bei den Düsseldorf Blackcaps. Das Cricket-Spielen nimmt bereits viel Zeit in Anspruch, also habe ich noch keine genaueren Pläne für die Zukunft geschmiedet.
(Hinweis: Das Interview wurde aus Gründen der besseren Lesbarkeit bearbeitet und gekürzt.)