Sichtweisen
„Mein Traum ist ein Geschichtenladen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und manchmal auch des Nachts stünde er allen offen, die eine Geschichte brauchen. Eine, die sie zum Lachen bringt oder sie tröstet, oder eine maßgeschneiderte Geschichte für ihre Lehrtätigkeit. Wenn es Streit gibt, könnten die Leute um eine Geschichte bitten, die sie den Standpunkt des anderen verstehen lässt. Menschen, die sich ungesehen und missachtet fühlen, könnten dort ihre Geschichte abgeben, damit sie an die Öffentlichkeit oder an eine bestimmte Person weitergetragen wird“, schreibt Martin Ellrodt in der Traumübung. Wenn sein Traum wahr würde, stünde Martin in seinem Laden in einem kleinen Ort in Oberfranken, würde den Leuten zuhören und ihnen Geschichten erzählen, in ihren Gesichtern der unverkennbare Ausdruck des Verstehens und hin und wieder ein Lächeln.
Als Kavita Gupta von Martins Traum hört, ist sie begeistert. Ihr eigener Traum ist nicht unähnlich: „Mein Traum ist es, ein Zentrum für die Darstellenden Künste zu eröffnen, in dem Proben, Treffen und Lehrgänge stattfinden, unabhängig von Kunstform, Nationalität, Sprache oder Religion. Ein sicherer Ort, der durch den Staat oder eine Kunsteinrichtung finanziert und durch die Künstler*innen selbst verwaltet wird.“
Unser Leben gehört nicht nur uns selbst - und das gilt auch für unsere Träume. Als Schriftstellerin ist sich Monica Cantieni der Verantwortung des Geschichtenerzählens bewusst. „In einem Gespräch während der zweiten Welle der Covid-19-Pandemie von 2021 meinte mein Kollege Sandip Roy, die Pandemie wäre wie die See und er würde oft lesen, wir säßen alle im selben Boot. Ihm missfiel dieses Bild und er sagte: ‚Das ist nicht wahr.‘ Ich stimme ihm zu. Als Romanautorin lebe ich viele verschiedene Leben. Darin liegt eine Gefahr. Ich will in meinen Büchern zeigen, wie wir alle verschieden, aber in unserer Verschiedenheit ebenbürtig sein können. Ich träume davon, dass meine Geschichten diesem Ideal gerecht werden. Ich arbeite hart daran, und ich liebe Geschichten, die das erreichen.“ Sie schreibt weiter: „Ich interessiere mich für das Wasser und für Boote. Ob im Leben oder in meiner Arbeit, was irgendwie dasselbe ist, frage ich, wie diese Boote aussehen. Mein Traum ist, dass wir die richtigen Fragen stellen und der Antwort gut zuhören.“
Für manche von uns werden Träume wahr. „Ich leite einen Laden für Kinderbücher und ein Literaturfestival für Kinder. Ich lebe meinen Traum“, sagt Swati Roy. Doch damit ist es nicht getan. „Ich denke, jedes Kind ist einzigartig, genauso wie seine Bedürfnisse. Mein Traum ist es, eine große Auswahl an Büchern anzubieten, damit jedes Kind das richtige findet.“
Und vielleicht, mit etwas Glück, die „richtige“ Geschichte.
Lange nahm man ganz selbstverständlich an, dass die Malereien in den Höhlen in aller Welt von Männern stammten. Doch neuere Analysen der Handabdrücke in der Cueve de los Manos in Argentinien zeigen, dass sie wohl Kunstwerke aus Frauenhand sind, wodurch das Bild allein des Mannes als Jäger, Sammler, Künstler und Modell ins Wanken gerät. Gravuren einer altsteinzeitlichen Steintafel aus dem deutschen Gönnersdorf zeigen eine Frau mit einer Babytrage auf dem Rücken, die Hände frei zum Jagen und Sammeln.
Heute ist klarer denn je, dass wir den Blick auf unsere Geschichten erweitern müssen; nicht nur in Bezug auf Themen und Inhalte, sondern auch auf ihre Urheberschaft. Das kann nur gelingen, wenn die in den Fokus rücken, die zu lange übersehen wurden, aus Zufall oder mit Absicht. Wer ist der oder die Andere in unseren erzählerischen Traditionen? Und wie können wir sie integrieren?
Wir stellen vor: das Minimanifest - eine Postkarte der Möglichkeiten. Eine Einladung an diejenigen, die wir ignoriert oder ausgeblendet haben, deren Geschichten ebenfalls gehört und geteilt werden sollen und deren Träume so wichtig sind wie die aller anderen.