CHANCENGLEICHHEIT
Sport für alle
Als die dreizehnjährige Priya zum ersten Mal in ihrem Leben Sport trieb, hatte sie schreckliche Angst davor, hinzufallen und sich zu verletzen. Weil da niemand war, der sie antrieb und ermunterte, entschied sie, Sport sei nichts für sie. Jedenfalls dachte sie das bis vor einem Jahr noch.
Als Schülerin an der Gandhi Memorial School in Delhi, einer Schule für Einkommensschwache, gab es für Priya von jeher kaum Gelegenheit, Sport zu treiben. "Freunde haben mich zwar dann und wann aufgefordert, bei ihnen mitzumachen, aber ich wollte nie,” erinnert sie sich. Heute hingegen ist sie eine begeisterte Kho Kho-Spielerin, die schneller als die meisten ihrer Mitspielerinnen übers Feld flitzt. Diesen Wandel hat sie in ihren Augen dem Engagement eines ganz bestimmten Startups zu verdanken.
Chancengleichheit auf dem Spielfeld mit ‚Khel Khel Mein’
‚Khel Khel Mein’ ist eine gemeinnützige Organisation, die von vier ehemaligen Teach For India (TFI)-Stipendiaten gegründet wurde und sich zur Aufgabe macht, den Sportunterricht an unterprivilegierten Schulen zu fördern, wo er oft überhaupt nicht stattfindet oder sehr vernachlässigt wird.Noch während die Gründer Anirban, Jasmeet, Chandni und Garima noch TFI-Stipendiaten waren, entwickelten sie viele Ideen, wie man die Bildung in ihren Schulklassen verbessern könnte. Mit der Zeit kamen sie darauf, dass allen eine entscheidende Sache zu fehlen schien: die Möglichkeit, Sport zu treiben.
Es begann als ein Experiment in ihren Klassen, in denen sie ganz einfachen Sportunterricht und körperliche Aktivitäten einführten. Sie teilten die Klassen in mehrere Mannschaften und veranstalteten innerhalb der Schule Turniere. Als der Enthusiasmus, die Lust am körperlichen Wettstreit und die geweckte Energie immer weiter zunahmen, wurden ihnen klar, dass ihr Konzept funktionierte.
Bald darauf endeten ihre Stipendien und aus dem Experiment im kleinen Maßstab entwickelte sich eine wesentliche größere Unternehmung.
Sportunterricht: Der Weg zum Wandel
“Wir nutzen den Sport, um vielfältige Aspekte anzusprechen. Zunächst einmal geht es um die ganzheitliche Entwicklung des Kindes – in sozialer, mentaler, emotionaler und körperlicher Hinsicht. Dadurch entwickeln sich dann Fähigkeiten fürs Leben wie Führungsqualitäten, Teamfähigkeit, Ernährungsbewusstsein,“ weiß der 31jährige Anirban.Neben den gegebenen Fußballregeln haben sie noch einen sogenannten “Punkt für die Gegner” eingeführt, den eine Mannschaft erhält, wenn sie gut spielt und ihr doch kein Tor gelingt. Anirbans Ansicht nach können solche neuen, abgeänderten Regeln den Schülern mehr mitgeben, als wenn sie nur einem Ball hinterher rennen.
Priya, an deren Schule sich ‘Khel Khel Mein’ seit einem Jahr engagiert, sagt, nicht nur sie selbst finde es schön, beim Sport mitmachen zu können, auch die Einstellung ihrer Eltern habe sich geändert. Obgleich diese anfänglich der Meinung waren, der Sport „lenke sie nur ab“, werde sie nun von ihnen unterstützt. „Auch kannte ich vorher meine jüngeren Mitschülerinnen überhaupt nicht. Jetzt spielen wir ständig zusammen, so dass sich eine Gemeinschaft gebildet hat. Heute kenne ich die meisten der Jüngeren,” erzählt Priya.
Die Eltern vom Wert des Sportunterrichts zu überzeugen, war nur eine der vielen Herausforderungen, mit denen sie in den vielen Schulen in ganz Delhi konfrontiert waren – sowohl an den Privatschulen wie an den staatlichen Schulen für Einkommensschwache. Eltern von Jungen waren leichter zu überzeugen als die von Mädchen. Mittlerweile ist das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen ausgeglichen, mit einer Tendenz zu mehr teilnehmenden Mädchen.
„In unseren Ligen spielen heute 60% Mädchen,” freut sich Anirban mit einem Lächeln. Er betont, es ginge ihnen darum, die Hilfsangebote nur eine gewisse Zeit lang von außen zu organisieren, um die Schulen dabei zu unterstützen, die Sportgramme dann selbstständig weiterzuführen.
„In dem Moment, wenn die Lehrer wissen, wie sie den Sport in ihren Unterricht einbauen können und ihre Sportanlagen fertig sind, ziehen wir uns aus der jeweiligen Schule wieder zurück und überlassen dieser selbst die weitere Organisation,“ erklärt das Team.
Die Gründung von 'Just For Kicks'
Diese Einstellung zur Selbsthilfe teilen auch Neha Sahu und Vikas Plakkot, die Gründer von Just For Kicks (JFK). Seit 2012 hat sich JFK dem gleichen Ziel verschrieben: nämlich den Schülern an schlechter gestellten Schulen durch Sport eine höhere Chancengleichheit zu vermitteln.Neha musste wie jede Lehrerin von hyperaktiven Acht- und Neunjährigen Mittel und Wege finden, die Matheaufgaben so interessant zu gestalten, dass die Schüler nicht mitten im Unterricht einschliefen. Nach langwierigen Überlegungen führte sie die Schüler aus dem Klassenraum hinaus ins Freie. Sie entwickelte Spiele, in denen mathematische Kenntnisse und sportliche Betätigung gleichermaßen gefordert waren.
Die verlangten die ganze Aufmerksamkeit der Kinder und brachten zugleich Freude beim Lernen. Sie verband das Lernen mit Spaß und Unterhaltung, die Lernerfolge der Schüler im Klassenraum wie im Freien wurden dabei immer größer. Das war der Punkt, an dem ihr klar wurde, dass dieses Engagement sich noch ausbauen ließ.
Sie überzeugte Schulen in mehreren Oberzentren und heute organisiert JFK zwei Ligen pro Jahr, für Mädchen und Jungen, die in leuchtend orangen, grünen und gelben Trikots überall im Land Tore schießen. Der erste Ort war Pune und mittlerweile hat sich das Fußballfieber nach Mumbai, Bangalore, Hyderabad und Delhi ausgebreitet.
Anfangs war es wirklich schwierig, die Schulleiter zu überzeugen. Die akademischen Noten und Schulzeugnisse als wichtigste Ziele vor Augen hielten die Schulverwaltungen wie auch Eltern den Sport nur für eine „Ablenkung“ und „Zeitverschwendung“. Nach und nach allerdings wandelte sich diese Haltung, je deutlicher sich die positiven Aspekte des Sportunterrichts zeigten.
Erzielte Tore
Neha sagt, die Auswirkungen von regelmäßiger sportlicher Betätigung könne sie an vielen Seiten des Verhaltens ihrer Schüler ablesen. Teamarbeit, Führungsqualitäten und Disziplin seien nun Teil ihres Lebens und sie selbst zu einer Gemeinschaft von jungen, talentierten Sportlern geworden. Indem man ihre Chancengleichheit auf den verschiedenen Spielfeldern verbessert und sie so ausstattet, dass sie in Ligen antreten können, die normalerweise privilegierten „Elite“-Schulen vorbehalten sind, erschüttern sie auch ein wenig die Klassenherrschaft innerhalb des organisierten offiziellen Sports in Indien.Neha erzählt: „Die besten zehn Spieler des letzten Turniers werden in England mit einem Verein aus der English Premier League Club trainieren können. Eine Fachjury wählte fünf JFK-Schüler neben fünf Schülern aus Elite-Schulen aus.“ Einzelne JFK-Schüler wurden außerdem vom Pune FC und dem Mumbai City FC zum Probetraining eingeladen. Dank der Spenden, Schenkungen und Unterstützung von CSR-Programmen großer Unternehmen kann JFK allen seinen Spielern die Sportausrüstung und das Trainingsequipment stellen.
Schiedsrichter gesucht?
Programme wie Just For Kicks und Khel Khel Mein fördern gerade in städtischen Umfeld den gleichberechtigten Zugang aller Schüler zu Sport und zur Bildung. Auch wenn ein Gesetz von 2009 Spielplätze an allen staatlichen Schulen verpflichtend macht, ist dessen Umsetzung oft ein Ding der Unmöglichkeit. In den meisten Ballungszentren Indiens sind diese „Spielplätze“ aus Platzmangel nicht mehr als winzig kleine Felder innerhalb bereits bestehender öffentlicher Plätze.Dieser Misere, also dem Platzmangel in der städtischen Umgebung, versuchte das Bildungs- und Entwicklungsministerium 2012 mzu begegnen, indem es das Gesetz novellierte. Nur 39 Prozent der insgesamt 570.000 öffentlichen Schulen in Indien besitzen nach Angaben des National Council for Education Research and Training Spielplätze für Kinder. Offenkundig sind das für die gemeinnützigen Organisationen fast unüberwindliche Hürden bei ihrer Arbeit; was sie denn auch fordern lässt, dass sich die Regierung stärker um bessere Rahmenbedingungen bemüht, damit ihr Engagement die Schüler auch wirklich erreichen und ihr Leben nachhaltig verbessern kann.