„Ich glaube, dass erstmal die schiere Größe und dann die Andersartigkeit der sichtbaren Struktur und Gesellschaft der indischen Großstadt, verglichen zu hier, mich umgeblasen hatte“, erinnert sich Barbara Yelin an ihren Aufenthalt in New Delhi, wohin sie im Herbst 2012 auf Einladung des Goethe-Instituts für eine Woche gereist ist.
„Erst dann begann ich, auf die Details zu achten, einzelne Passanten und Menschen, die ich getroffen habe, individuell wahrzunehmen. Farben und Gerüche sind unvorstellbar intensiv, so wie in jedem Reiseführer beschrieben.“ Farben sind es auch, die Yelin auf den ersten Skizzen ihres Reisetagebuches abbildet, warme Farben einer fremden Stadt, die sich vermischen mit den Geräuschen Indiens, mit Stimmengewirr und Autohupen. Danach folgen die Details, Skizzen von Hunden, die in der Sonne schlafen, Impressionen aus dem Fenster einer Auto-Rikscha.
Bilder prägen die Erwartung an ein Land. Klischees aus Reiseführern und Filmen lassen sich nicht verdrängen, wenn man erstmals in ein Land reist. Wie kann man mit den Bildern umgehen, die sich über ein Land im eigenen Kopf angesammelt haben, finden sie sich bestätigt oder kann man zu eigenen Bildern finden?
„Da es meine erste Reise nach Indien war, hatte ich sicherlich viele Klischee-Bilder im Kopf, bevor ich fuhr“, erinnert sich die Künstlerin. „Ebenso war das sichtbare Elend vieler Menschen auf der Straße unvorstellbar furchtbar und warf mich ziemlich aus der Bahn, egal, wie viel man darüber vorher hört oder liest. Trotzdem ist es manchmal auch der (sichtbare) ganz normale Alltag, der natürlich erheblicher Teil eines fremden Ortes ist, der überrascht – weil es eben genau gar nicht Teil eines Reiseführers ist. Aber das Reisen an einen Ort, den man noch nicht kennt, bringt ja immer vor allem erstmal Verwirrung hervor, Staunen, Irritation, manchmal auch Ängste – eben weil man ihn noch nicht kennt. Egal, wie gut man vorbereitet sein mag.“
Einige der Skizzen wirken, als versuche die Künstlerin, über sie ihr Staunen, ihre Verwirrung und Irritation zu ordnen, das unübersichtliche Gewirr einer Straße, das sich über den Köpfen der unzähligen Menschen in Kabeln und Wäscheleinen weiterträgt. „Get ready to be blown away by all the impressions“ beschreibt sie die auf sie einstürzenden Eindrücke beim Verlassen der U-Bahn. Was auffällt in den Skizzen Yelins: Zwar zeichnet sich die Künstlerin in der Rikscha, beim Essen oder auf einem Konzert, doch ihr Blick bleibt stets nach Außen gerichtet.
„Man entscheidet ja schon bei so einem Skizzen-Tagebuch, von dem man weiß, dass es öffentlich zu sehen sein wird, wie stark man selbst auftritt und in welchem Grad der Privatheit. Ich entscheide, welche Geschichten passen“, erklärt sie diese Perspektive. „Die (manchmal gute, manchmal schwierige) Einsamkeit des Allein-Reisens zum Beispiel ist ein wichtiger Teil der Erinnerung, die ich aber nicht so stark ins Tagebuch reingenommen habe, weil es für diese Format eher meine Privatsache blieb.“
Eine Distanz, die sich womöglich auch aus der Rolle ergibt, in der Yelin nach Indien eingeladen worden war: Als Repräsentantin der deutschen Comic-Szene. „Ich wurde sehr respektvoll willkommen geheißen und sehr warmherzig, teilweise überwältigend gastfreundlich“, erinnert sie sich daran, wie sie in dieser Rolle in Indien wahrgenommen wurde.
„Als (damals kinderlose und) unverheiratete Frau einen Beruf auszuüben, der einerseits selbstbestimmt und aber auch so wirtschaftlich unsicher ist, mag einigen, denen ich begegnet bin, als etwas eher exotisches, merkwürdiges erschienen sein, oder halt wie ein Hobby. Auf der anderen Seite fand ich bemerkenswert, wie mir als Zeichnerin eine Wertschätzung des Zeichnens selbst begegnet ist, wenn ich draußen gezeichnet habe. Wenn ich hier draußen zeichne, werde ich meistens eher ignoriert, die Leute kucken wenn überhaupt nur ganz heimlich über meine Schulter.
In Delhi erinnere ich mich an mehrere Situationen, wo grade das Zeichnen besondere Gespräche initiiert hatte, mit Jungen und Alten, Männern und Frauen, Armen und Reichen, weil das Bild selbst, das Zeichnen, einen Kontakt ermöglicht, in einer Rolle, wo es dann nicht mehr so wichtig ist, dass ich eine Frau oder eine europäische Touristin bin etc. (Schien mir zumindest so, ist sicher auch Wunschdenken dabei.) Wichtig ist mir, beim Zeichnen vor Ort nicht den Eindruck des Voyeuristischen zu machen. Ich zeichne nur dort, wo ich das Gefühl habe, es stört nicht. Oder ich frage.“
Die Frage der Repräsentation ist in einem Land wie Indien, das durch eine lange Kolonialgeschichte geprägt ist, immer auch eine politische. Der westeuropäische Blick auf das Land ist ebenso geprägt von den Nachwirkungen der Kolonialzeit wie der indische Blick auf Europa. Gleichzeitig hat das Land einige der zentralen Ideen der aktuellen postkolonialen Theorie geprägt.
Homi Bhabha etwa hat vom „Dritten Raum“ geschrieben, in dem sich das Eigene und das Fremde treffen können, woraus sich die Möglichkeit ergibt, dass etwas Neues entsteht. Auch der Comic kann zu einem solchen „Dritten Raum“ werden, in dem sich durch die Interpretation dessen was man sieht, durch Missverständnisse und Begegnungen, etwas neues formt.
„Vielleicht kann so ein dritter Raum ja auch schon die oben beschriebene Begegnung der Zeichner*in und der Menschen vor Ort sein?“, ergänzt Yelin. „Und ja, die Zeichnungen selbst sind natürlich wiederum ebenfalls Begegnungsort, also ein solcher ‚dritter Raum‘, zwischen der*m Zeichner*in und den Betrachtenden. Denn hier finden wiederum individuelle Begegnungen statt, je nachdem, wer liest/anschaut, sprechen die Zeichnungen/Comics unterschiedliche Leute und Erfahrungshintergründe an und formen damit unterschiedliche Kommunikation.
Sicher ist, dass meine Zeichnungen keine Objektivität besitzen, sie können nur meine individuelle Sicht zeigen. Mir geht es auch nicht drum, etwas zu erklären, sondern die Zeichnung ist das Produkt des eigenen Anschauens, Verstehenwollens, meines individuellen Erfahrungsprozesses. Eingeflochten sind die Begegnungen, kleinen Geschichten, die während des Zeichnens selbst passieren.“
Wichtig bleibt, dass es nicht bei einmaligen Begegnungen bleibt, dass der Austausch fortgeführt wird, wie die „sehr tolle Begegnung zwischen den indischen Zeichnerinnen und den Spring-Zeichnerinnen für „Elephant in the Room“ – was jetzt nicht mein Verdienst war, aber eben in der längeren Kette der Comicveranstaltungen mit Zeichnerinnen am Institut Delhi in Zusammenarbeit mit Ute Reimer entstand, die eine große Ermöglicherin dieser Projekte war. Denn sie hat das Comiczeichnen als Medium der Begegnung von Beginn an verstanden und gefördert, immer mit freiem Ausgang, wofür man sie, finde ich, nicht genug loben kann.“