Das Böseste, das ich über Reinhard Kleist sagen kann - dem bei Kritik und Feuilleton erfolgreichsten Autor von Comics im deutschsprachigen Raum? Er zeichnet und erzählt oft so, wie sich, glaube ich, ein internationales Publikum einen immens beliebten deutschen Comickünstler vorstellt:
In "Family Guy", der "Simpsons"-nahen Sitcom voll bizarrer Vergleiche, klagt Peter über seine Frau: "Du ziehst mich schlimmer runter als eine deutsche Gute-Nacht-Geschichte." Wir sehen den Daumenlutscher aus dem "Struwwelpeter": "There once was a boy who liked to suck his thumbs. His mother asked him to stop, but he wouldn't. So she cut off his thumbs. Now he has no thumbs. Good night."
Rammstein spielen grimmige Musik. Werner Herzog kauzt Interviews, sarkastisch, oft staubtrocken. Reinhard Kleist liebt Noir, tiefe Schatten, traurig gebrochene Herren in Schwarzweiß, Bildwelten in Moll, Männer-Biografien über einsame Männer, wortkarg in Männerwelten, erstickt an Männlichkeitsvorgaben. "Herrenschokolade" ist extra-bitter. Kleists Comics sind extra-dräuend, existenziell. Good night?
2017, am Goethe-Institut Colombo, illustrierte Kleist die Songs des Singer-Songwriters Ajith Kumarasiri - in Echtzeit während des Konzerts, als "Live Drawing". Unter der Rubrik "Reiseskizzen" zeigt Kleists Website je 10 bis 20 Motive aus mehr als zwölf Ländern, entstanden oft auf Reisen im Rahmen weiterer "Live Drawing"-Auftritte.
Die Skizzen aus Sizilien sind recht bunt, effektreich, überdreht. Vietnam? Kleinteiliger, charmant detailreich. In Ägypten skizziert Kleist Statuen mit flächigen, wuchtigen Kontrasten. Algerien malt er in Aquarellfarben, verspielter Kolorierung.
Kleists 14 (oft doppelseitige) Sri-Lanka-Skizzen kommen der Ästhetik vieler Kleist-Comics besonders nah: markante Schatten, Männerkörper und -Gesichter, Zwielicht. Ein guter Einstieg!
"Urban Sketching" ist mittlerweile so geläufig und beliebt - ich merke beim Blick auf Kleists Arbeiten, wie häufig ich im Online-Alltag Likes verteile an Menschen mit Notizbuch oder iPad, die fleißig, mit viel Aufwand und oft in Farbe pittoreske Stadtansichten oft extra-pittoresk und -realistisch nachzeichnen. Trotzdem heißt der erste Buchtitel, der mir zum Thema Urban Sketching vorgeschlagen wird: "Die Kunst des Weglassens".
Reinhard Kleists Strich hat Autorität. Seine Kunst ist Weglassen; oft auch Dehnen, Wölben, Ausfransen, Im-Ungefähren-Halten. Er zeigt Tempel, Schreine, eine Bar oder Bäckerei, Straßenansichten, Fahrräder, eine nackte Glühbirne, die einen Buddha beleuchtet. Ist das Sri Lanka, 2017? Soll ich enttäuscht sein, weil 14 Bilder nicht ganz Sri Lanka fassen, alle Sri Lankas, zigfarbig, detaillierter, ausgemalt?
Sobald ich die Kleist-Grundpfeiler hinnehme (Männer in Männer-Milieus, Schatten, Jalousien/Gitter, ein oft drohendes Schwarz) und seine längeren Comic-Bände lese, finde ich Vielfalt, Brechungen, Spannweiten: "Berlinoir" und "Dorian" sind prächtig bunt; Kleists Johnny-Cash-Comic macht Kleists Nick-Cave-Comic nicht redudant; der Comic über den jüdischen Boxer Hertzko Haft in Auschwitz steht neben "Knock-Out" (2019) über Boxer Emile Griffith, Afro-Amerikaner, schwul, Boxweltmeister 1961. Duos, oft Ketten. Immer ähnliche Töne. Doch ganz verschiedene Tonfolgen, Akkorde.
Ich freue mich, wenn Bekannte "Der Traum von Olympia" als Schullektüre oder im Unterricht verwenden, meinen Lieblings-Kleist: Die Sprinterin Samia Yusuf Omar nahm 2008, mit 17, an den Olympischen Spielen in Peking teil. 2012 will sie in London laufen - und was ihr Leben über Migration, Rassismus, Europas Arroganz erzählt, fasst Kleist in Bilder: zugänglich, dringlich, unvergesslich.
Ich treffe einen Comic-Kritiker aus Spanien und frage, warum so viele italienische und spanische Zeichner bei DC Comics und Marvel Comics erfolgreich Heftreihen füllen - während mir kaum Deutsche einfallen, die je Gotham City inszenieren durften. "Das ist umgekehrt. Der Markt in Frankreich und zunehmend Deutschland ist robust genug, dass sich die Arbeit an eigenen Projekten, Stoffen lohnt. Wir Spanier können nur vom Zeichnen leben, wenn wir US-Auftragsjobs hinnehmen."
Reinhard Kleist wäre toll als Zeichner von "Catwoman" oder "Old Man Hawkeye"; und Kanadier Jeff Lemire zeichnet Indie-Comics, handwerklich Kleists Sri-Lanka-Skizzen recht nah. Tatsächlich aber findet Kleist seit der US-Ausgabe von "Cash" mit eigenen Stoffen, Projekten zunehmend internationales Publikum..
Ich glaube, weil Kleists Coney Island, Kleists Havanna, Kleists Südstaaten oft stilsicherer inszeniert und ausgestattet wirken als viele Arbeiten lokaler Künstlerinnen und Künstler. Spaghettiwestern, gedreht in Italien, wirken nie wie US-Filme. Doch schwelgen in der... Westernhaftigkeit des Westerns. Mit solchem Elan übergibt sich Zeichner Kleist den Räumen, die seine Stoffe öffnen: Schatten gibts immer, Molltöne, grantige und verbrauchte Männer-Visagen.
Doch auf den zweiten Blick eben überraschend viel mehr: Farbtupfer, Queerness, markante Frauenfiguren. Inszeniert von jemandem, der Räume, Settings so ernst nimmt, dass ich ihm zunehmend jede Epoche, jeden Kontinent zutraue.