Marie Schröer über „Moresukine: Wöchentlich aus Tokyo“
Oubapo in Tokio

Aus „MORESUKINE“ © Dirk Schwieger

Wenn die Bezeichnung Graphic Travelogue zu einem Comic wie die Faust aufs Auge passt, dann zu Dirk Schwiegers Episodencomic Moresukine: Wöchentlich aus Tokyo. In diesem Werk dienen Land und Leute nämlich nicht primär als Kulisse für autobiografische Erkundungen, Liebes- oder Abenteuerromane; sie stehen dezidiert im Mittelpunkt.

Das Büchlein bietet Impressionen aus Tokio im Besonderen und japanischer (Populär-)Kultur im Allgemeinen. Allerdings haben wir es nicht mit einem herkömmlichen Carnet de Voyage (so der französische Name für die dort sehr beliebte Gattung der Reisetagebuch-Comics) zu tun, in dem Skizzen, Anekdoten und bon mots lose aneinandergereiht gesammelt werden. Die konventionellen Vertreter dieses Genres sind zwar häufig ästhetisch ansprechend, lehrreich und auch unterhaltsam, aber selten besonders einfallsreich.

Das ist im Fall Moresukine definitiv anders. Der von Reprodukt 2007 veröffentlichte Comic basiert auf dem gleichnamigen interaktiven Comic-Blog (und dieser auf Skizzen aus dem legendären Notizbüchlein), den Schwieger von Januar bis Juli 2006 mit 24 Slice of Life oder besser Slice of Surprise-Episoden aus seinem Leben in Tokio füllte.

Slice of Suprise

Das Besondere daran? Schwieger folgt in seinen Erkundungen nicht seinen individuellen Interessen oder Impulsen, sondern arbeitet die Aufgaben ab, die ihm seine Follower im Blog stellen. Am zweiten Januar 2006 postet er aus Tokio folgendes Angebot (in Comicform): „Vielleicht habt ihr von einem Ort gehört, den ich aufsuchen sollte oder ihr kennt eine Person, die ich versuchen sollte zu treffen oder aber euch interessiert ein Thema, das auf irgendeine Weise mit meiner neuen Heimatstadt zu tun hat. […] Und ich werde es tun, ohne groß Fragen zu stellen und ob es mir gefällt oder nicht.“

Die Offerte, die am Anfang von Moresukine steht, dürfte deutlich machen, inwiefern sich Schwiegers Sammlung von den traditionelleren Reise-Comics absetzt. Der Autor verfolgt nicht seine individuellen Interessen, sondern wird zum Auftrags-(Be)Sucher, der für andere kulturelle Phänomene und legendäre Orte erkundet. Eine Woche nach Auftragserfüllung wird auf seinem Blog für alle sichtbar Bericht erstattet, und zwar in Comicform.

Zwar kommt auch in Schwiegers Variante des Carnets das für Reisen konstitutive Sich-Treiben- bzw. in diesem Fall vor allem das Sich-Einlassen nicht zu kurz. Diese Offenheit wird allerdings nicht in impulsive Zeichnungen, sondern in sorgfältig komponierte Strips (mit einem Touch von Underground Ästhetik) übersetzt – und zeigt sich eben gerade dadurch, dass nicht „frei Schnauze“ nach persönlichen Vorlieben vorgegangen wird.

Im Gespräch mit dem Autor stellt sich heraus, dass es für diese innovative Version der Reiseerzählung mehr als einen Grund gab: Zum einen operiere er zwar zwangsläufig aus der „Autorposition des westlichen weißen Mannes“, aber dadurch, dass er eben verschiedenen Auftraggebenden folge, weite das die Perspektiven. Viele der Orte hätte er ansonsten nicht unbedingt aufgesucht.

So haben auch andere User die Möglichkeit, den „Sehnsuchtsort Neo-Tokio“ mit seiner Hilfe zu entdecken, und die imaginären Bilder mit der Realität abzugleichen. Er macht sich quasi zum Avatar, mit dem die Zu-Hause-Gebliebenen ihre Neugier stillen und Missionen umsetzen können.

Diese Computerspiel-Metaphorik ist kein Zufall, sondern der zweite wichtige Motor seiner Erzählweise. Schwieger nennt die japanische Games Kultur explizit als Inspiration für das Projekt. Da ist es auch nur folgerichtig, dass die Verabredungen der Missionen konsequent im virtuellen Raum getroffen wurden. Schwieger erzählt, einer der letzten Aufträge habe gelautet, nach Kambodscha zu reisen und da das Projekt fortzusetzen. Das habe er aber nicht in Erwägung gezogen. Zugeschnitten sei das Ganze ja eben ganz konkret auf die japanische Kultur gewesen.

Aber ein bisschen auf eine Fortsetzung hoffen können wir trotzdem: Er schließt nicht aus, dass er irgendwann „im Alter mal“, die (konkret auf Japan bezogenen) Restaufträge abarbeiten wird.

Oubapo in Tokio

Als ich ihm sage, dass mich dieses Vorgehen stark an die Oubapisten erinnere, weiß er sofort, wovon ich spreche. Zur Erläuterung: Oubapo steht für Ouvroir de Bande Dessinée Potentielle (Werkstatt des potentiellen Comics) und wurde 1992 als Comic-Pendant zur Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle) gegründet. Ziel der Oubapo ist es (wie bei der Pate stehenden Oulipo, der Werkstatt für potentielle Literatur) Möglichkeiten der Kunstform mit Hilfe von selbst auferlegten Einschränkungen auszuloten. Diese können formaler Natur (etwa die Aufgabe, einen Comic zu gestalten, in dem nur der Text, nicht aber das Bild des Panels variiert wird) oder eben inhaltlicher Art sein (wie z. B. die Herausforderung, einen Comic über drei komplett willkürlich gewählte Objekte zu zeichnen).

D. h. durch im Vorfeld vereinbarte Regeln werden überhaupt erst Räume für das Auskundschaften der Comic-inhärenten Potentiale aufgemacht, die vorher nicht sichtbar waren und werden neue Stoffe inspiriert, die vorher nicht gedacht wurden. Wenn der Autor sich wie Schwieger „ohne groß Fragen zu stellen“ auf solch eine Challenge einlässt, hat er auch noch keinen fertigen Comic im Hinterkopf, sondern begibt sich jedes Mal auf eine neue Reise. Dass als Subtext außerdem noch die Computerspiel-Dynamik mitschwingt, macht seinen Ansatz gleich doppelt spielerisch.

Natto, Para Para und die „ornamentale Verwendung lateinischer Buchstaben“

Nach diesen Ausführungen über den Comic- und Gaming-reflexiven Überbau, soll zumindest ansatzweise verraten werden, wo die spielerische Herangehensweise in Moresukine überhaupt hinführt. Die 24 Etappen sind äußerst abwechslungsreich, mal themen- mal ortszentriert. Lesende bestaunen mit dem Autor die imposante Landschaft um Tokio (Berg Takao), besuchen skurrile Nicht-Orte (Love Hotel, Kapselhotel, Telefonclub), besondere Museen (Studio Ghibli Museum, Origami Museum), probieren Sushi-Variationen, Natto (fermentierte Sojabohnen, für Erst-Esser eher gewöhnungsbedürftig) und Kugelfisch (Fugu). Sie lernen etwas über japanische Redewendungen, extravagante Tänze (Para Para Trance Dance) und Cosplay. Die Lektüre ist nicht nur sehr informativ, sondern auch sehr unterhaltsam.

Als Schwieger etwa gebeten wird, über japanische Modevorlieben zu recherchieren, schreibt er u. a. über ein dreigeteiltes Panel, auf dem verschiedene U-Bahn-Passagiere zu sehen sind: „Frauen tragen manchmal weiß, Männer nie. Verstörend für einen Europäer, aber ein alltäglicher Anblick: Armbinden und Schutzmasken. Und natürlich gibt es noch die rein ornamentale Verwendung lateinischer Buchstaben.“

Dass die Schutzmaske fast 15 Jahre später nun auch im europäischen Alltag angekommen ist, ist eine Anekdote am Rande; diese Szene zitiert habe ich aus anderen Gründen. Das Bild zum letzten Satz zeigt eine ältere Dame mit akkurat geknotetem Halstuch, strenger Brille, überlangem Rock und einem Pullover mit der Aufschrift „Too drunk too f***.“ Kurzum: Der Comic ist lustig.

Dafür sorgen nicht nur die per se schon schrägen Geschichten, sondern eben, wie es sich für einen guten Comic gehört, die dynamischen Interaktionen zwischen Bild und Text, die sich bisweilen fast einen Schlagabtausch von Geistesblitzen zu liefern scheinen. Die Seitenarchitektur jeder Episode wird dem jeweiligen Inhalt angepasst. Die Seiten sind gespickt mit originellen grafischen Einfällen. Insofern: Moresukine ist für Japan-Fans, aber auch für Comic-Liebhaber absolut zu empfehlen. Und zeigt sehr deutlich, dass Carnet de Voyage nicht gleich Carnet de Voyage ist.

Moresukine: Wöchentlich aus Tokyo, Dirk Schwieger. Taschenbuch, 160 Seiten. Verlag: Reprodukt.
ISBN: 9783938511435. 24,00 EUR

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