Es ist eine „seltsame Stadt“, die Jens Harder in seiner Story »Ticket to God« gemeinsam mit den Lesern ansteuert. Eine Stadt, die vereint und im gleichen Atemzug spaltet, wie kaum eine andere. Zerstört, umkämpft und geteilt, gleichzeitig zentrale Stätte dreier Weltreligionen, die dort nebeneinander koexistieren: Jerusalem.
„Eine Stadt, deren Einwohner den Glauben noch nicht verloren oder gerade wiedergefunden haben“, wie der Künstler auf seinen Auftaktseiten zusammenfasst. Die Panels dieser beiden Seiten fangen Momentaufnahmen der Stadt in realistischen Zeichnungen ein: Den Autostau bei der Einfahrt nach Jerusalem, religiöse Gebäude, die Militärpräsenz, Touristen, Gläubige. Das Auftaktpanel, der Blick auf Jerusalem aus einem Sherut-Taxi im Stau, die Kombination aus Stillstand und Bewegung gibt einen Vorschein auf die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der Stadt, die sich auf den folgenden knapp 30 Seiten entfalten wird.
„Nächstes Jahr in Jerusalem“ – Aufgrund seiner langen Geschichte ist Jerusalem auch zu einer Projektionsfläche für Sehnsüchte und Hoffnungen aller Art geworden, verarbeitet in Kunst, Literatur, Film, Theater – und auch im Comic. Immer wieder haben Comiczeichner sich der Stadt wie auch dem Staat Israel zugewandt, haben ihr eigenes Bild der Region entworfen, das oftmals geprägt war vom eigenen religiösen und politischen Standpunkt sowie der jeweiligen historischen Situation.
Schon rund ein Jahrzehnt vor der Staatsgründung hatte es beispielsweise Tim und seinen Hund Struppi 1939 nach Haifa verschlagen, um dort mit der britischen Mandatsverwaltung ebenso in Konflikt zu geraten wie mit jüdischen Freiheitskämpfern. Eine eigene Comictradition, die diesen Fremdbildern eigene entgegen setzen konnte, hat sich in Israel erst seit den 1990er Jahren entwickelt, und Jens Harders »Ticket to God« ist indirekt auch ein Dokument dieser noch jungen Szene. Im Rahmen eines Projekts des Goethe-Instituts Tel Aviv wurden die israelischen Zeichner Rutu Modan, Yirmi Pinkus und Guy Morad nach Deutschland eingeladen, um dort ihre Eindrücke des Landes in Bilder zu übersetzen. Tim Dinter, Jan Feindt und eben Jens Harder waren zum Gegenbesuch eingeladen.
Harder wählt in seiner Auseinandersetzung mit der Stadt die Perspektive des genauen Beobachters, der versucht, jedes Detail zu erfassen, jeder Facette gerecht zu werden. Graffiti und Mauerzeichnungen, vom Jerusalem-Syndrom befallene Gläubige, Marktstände und Bauwerke: die Genauigkeit seines Blicks und seine Liebe zu Details sind beeindruckend.
Doch was nutzen die schönsten Bilder, wenn die Kontexte fehlen, und so ist Jens Harders zentrale Erkenntnis: Es kann kein Verständnis der Gegenwart der Stadt ohne Wissen um ihre Geschichte geben. So folgt auf die eröffnenden Momentaufnahmen ein historischer Abriss, der aufgrund der Komplexität der Geschichte der Stadt fragmentarisch bleiben muss.
Beginnend mit dem Salomonischen Tempel und König David reitet Harder durch die Geschichte, zeigt die morgenländischen Heere, die die Stadt eroberten, bis hin zu den Briten, unter deren Mandat das Land seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1920 stand. „Geteilt und zugewiesen den Überlebenden von Verfolgung und Holocaust. Endlich vereint nach neuen Kriegen, nach Abkommen und Kompromissen. Doch bis heute weiter attackiert von den Rebellen der Intifada“, beschreibt Harder die Zeit von der Staatsgründung 1948 bis in die Gegenwart.
Bereits hier zeigt sich, welche Schwierigkeiten eine Annäherung an die Stadt mit sich bringt: Das in der Regel positiv besetzte Wort „Rebellen“ für die Intifada-Aktivisten wird nicht jeder Leser unterschreiben können. Bei anderen Perspektiven, Formulierungen und Blickwinkeln werden wiederum andere Leser widersprechen. Jerusalem als Stadt der Widersprüche – „Heilige Stadt? Wenn man Jerusalem überdachen könnte, wäre es eine geschlossene Anstalt“, kommentiert ein Beobachter die Unruhen zwischen Muslimen vor der Al-Aqsa-Moschee und orthodoxen Juden. Die Absurdität des Monty-Python-Films „Das Leben des Brian“ setzt Harder kommentierend neben die aus dem neben- und gegeneinander der Religionen erwachsenen Konfliktlinien.
Denn kaum nachvollziehbar erscheint dem Beobachter Harder die Dimension, die sich aus den Differenzen zwischen den Religionen ergibt und die das gesamte Leben in der Stadt bestimmt: „Die Vertreter von Judentum, Islam und Christenheit hocken auf der Heiligen Stadt wie drei riesige Glucken auf einem goldenen Ei. Sie sprechen verschiedene Sprachen, benutzen unterschiedliche Symbole, leben in verschiedenen Zeitrechnungen.“
Ebenso wie die Blicke von außen auf die Stadt sich stark unterscheiden, ist auch die Innensicht so kontrovers und zerstritten, wie an kaum einem anderen Flecken der Erde. Selbst innerhalb der Religionen türmen sich Mauern auf, die mindestens so unüberwindbar erscheinen, wie der israelische Schutzwall, der in der Zeit von Harders Besuch gerade am entstehen war.
So leben etwa die Orthodoxen Juden aus dem Jerusalemer Viertel Mea Sharim ein vollkommen von der Mehrheitsgesellschaft abgeschirmtes Leben: „Den Staat Israel erkennen viele hier nicht an. Sie zahlen keine Steuern, sprechen Jiddisch, gehen nicht zur Armee, halten sich strikt an die Gebote Mose und zelebrieren den Sabbat so streng, daß an diesem Tag nicht einmal Licht oder Radio angeschaltet werden dürfen.“
Einig sind sich alle Religionsvertreter einzig darin, was sie nicht wollen: Als ein Christopher Street Day in Jerusalem gefeiert werden soll, findet eine Pressekonferenz statt: „Zwei Oberrabbis, ein Imam, ein Scheich, der Bischof und die Patriarchen – alle kamen. Auf das Vorhaben, eine Jerusalemer Parade zu planen, kannten sie nur eine Antwort: Bitte erzürnt nicht unseren Herrgott!“ Mit dieser Ironie des Religionsfriedens in der Ablehnung des „Gottlosen“ entlässt Harder seine Leser wieder.
Während „Ticket to God“ mit einem Stau begann, endet es mit einem Schulterschluss der Weltreligionen – „wenn auch nur für Minuten.“ Denn länger als fünf Minuten wird die Stadt Jerusalem wohl niemals zur Ruhe kommen. Jens Harders Besuch in der Stadt liegt nun auch schon wieder fast zwei Jahrzehnte zurück, eine Reise des Künstlers in die Gegenwart Jerusalems würde ganz anders aussehen: Die neuen Konflikte durch die Hamas würden eine Rolle spielen, die aktuell schwierige Situation der Regierungsbildung, die Ausgrenzung der sephardischen Juden und Alltagsrassismus … Jeder Besuch Israels repräsentiert nur die absolute Gegenwart, die gesellschaftlichen Bedrohungslagen und Debatten sind in einem steten Fluss. Und gleichzeitig hätte sich auch gar nicht viel geändert in den zwanzig Jahren, denn wieder gäbe es: Den Autostau bei der Einfahrt nach Jerusalem, religiöse Gebäude, die Militärpräsenz, Touristen, Gläubige. Dabei könnte alles so einfach sein: „Man kommt als unschuldiges Kind auf die Welt und wird erst dann durch die Erziehung geformt. Bei der Geburt sind wir alle gleich.“
Cargo: Comicrereportagen aus Israel - Deutschland (Deutsch) Gebundenes Buch – 1. Oktober 2005