DaF-Unterricht soll Lernende befähigen, sich auf Deutsch in unterschiedlichen Situationen zu verständigen. Was bedeutet das in Zeiten von YouTube und WhatsApp? Sollte auf die sprachlichen Phänomene dieser Medien im DaF-Unterricht eingegangen werden oder haben sie sogar schon Eingang in Lehrwerke oder gar Prüfungen gefunden?
Menschen kommunizieren je nach Gesprächssituationen und Gesprächspartnern ganz unterschiedlich miteinander: Möchte ich mich nach dem Wohlergehen des Gegenübers erkundigen, frage ich meine Vorgesetzte zu Beginn eines Treffens völlig anders als einen Freund in einer Textnachricht via Smartphone. Diese unterschiedlichen Register können nach einer Kategorisierung (siehe Koch & Oesterreicher 1985) anhand der Merkmale Konzeption und Medium unterschieden werden. Koch und Oesterreicher unterscheiden für beide Merkmale die Formen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit. Während eine Nachricht entweder medial mündlich (phonisch, wie ein Gespräch) oder medial schriftlich (graphisch, wie eine geschriebene Nachricht) übermittelt wird, ist die Unterscheidung hinsichtlich der Konzeption graduell: Jegliche Äußerung kann auf einer Skala zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit eher der einen oder der anderen Richtung zugewiesen werden. Dabei bezeichnet die konzeptionelle Schriftlichkeit eine Sprachverwendung, die sich an der Standardsprache orientiert. Sie zeichnet sich durch grammatikalisch vollständige und auch durchaus komplexe Sätze aus. Da der Rezipient während der Äußerungssituation nicht anwesend und meist unbekannt ist, wird sie auch als Sprache der Distanz bezeichnet. Demgegenüber entspricht die konzeptionelle Mündlichkeit einer Sprache der Nähe, sie entsteht spontan und muss ohne zeitliche Planung auskommen. Die Kommunikationspartner befinden sich in der Situation an einem Ort und teilen sich gewisse Wissensvorräte.
YouTube-Kommentare und WhatsApp-Nachrichten
Insbesondere in informellen, spontanen und privaten Kontexten kommunizieren Menschen über digitale Medien häufig mit medial schriftlichen Texten, die konzeptionell eher mündlich realisiert werden. Dabei ist zu beobachten: je spontaner die Nachricht und/oder je vertrauter die Kommunikationspartner, desto höher das Maß an konzeptioneller Mündlichkeit. Auch das Thema einer Konversation kann Personen dazu verleiten, dialektale, jugendsprachliche oder umgangssprachliche Ausdrücke zu nutzen, die ebenfalls zur konventionellen Mündlichkeit gehören. Schriftliche Texte, die zahlreiche konzeptionell mündliche Elemente enthalten, sind beispielsweise Kommentare unter YouTube-Videos oder auch private WhatsApp-Nachrichten. Eine weitere Besonderheit konzeptionell mündlicher Texte in digitalen Medien ist es, dass paraverbale Gesprächsanteile wie Betonung und Gefühl der Gesprächspartner durch konventionalisierte Symbole angegeben werden: So werden Wörter, denen Nachdruck verliehen werden soll, vollständig in Großbuchstaben geschrieben – das wird auch als „Schreien" bezeichnet. Gefühle können durch Emoticons, bildliche Repräsentationen von Gesichtsausdrücken durch Schriftzeichen, oder Emojis ausgedrückt werden.
Konzeptionelle Mündlichkeit im Unterricht
Digitale Texte wie E-Mails oder SMS haben mittlerweile auch Eingang in den DaF-Unterricht gefunden: Selbst in standardisierten Prüfungen wie dem Goethe-Zertifikat müssen sich Lernende mit digitalen Texten wie Gästebucheinträgen auf Homepages oder E-Mails auseinandersetzen.
Beispiel für digitale Texte in Prüfungen
| Ausschnitt: Goethe-Zertifikat C1 Modellsatz, Teilbereich Schreiben
Diese digitalen Texte sind konzeptionell schriftlich gestaltet. Bei der abgedruckten E-Mail sind lediglich die ersten zwei Sätze durch die Verkürzung und Unvermitteltheit der Äußerung als konzeptionell mündlich zu werten. Die weiteren Sätze sind eher konzeptionell schriftlich. Bei E-Mails, die insbesondere im beruflichen Kontext in Lehrwerken und Prüfungen thematisiert werden, ist dies auch schlüssig.
Textnachrichten und spontane E-Mails an private Kontakte sind in der Regel von einer stärkeren konzeptionellen Mündlichkeit geprägt. Hier stellt sich die Frage, wie im DaF-Unterricht mit diesen Texten umgegangen werden soll.
Hohe Relevanz für Lernende im Zielsprachraum
Je nach Lernendengruppe ist die Behandlung konzeptionell mündlicher (und medial schriftlicher) Texte im Unterricht unterschiedlich relevant. Lernende, die das Verstehen wissenschaftlicher Texte in der Fremdsprache Deutsch als Ziel haben, werden mit konzeptionell mündlichen Texten kaum in Kontakt kommen. Allerdings sind diese Texte für Lernende, die sich im Zielsprachenraum aufhalten, höchst relevant. Aber auch in Fremdsprachenklassen im Ausland lohnt es sich, mit konzeptionell mündlichen, schriftlich verfassten Texten zu arbeiten: Zum einen stoßen Lernende durch das Internet selbst an weit entfernten Orten schnell auf solche Texte, zum anderen lassen sich sprachliche Besonderheiten und unterschiedliche Registerverwendungen erarbeiten. Lernende können durch die Analyse von konzeptionell mündlichen Texten selbst von schriftsprachlichen Konventionen abweichende grammatikalische Strukturen entdecken. Es geht also weniger darum, Lernende zu einer aktiven konzeptionell mündlichen Ausdrucksweise zu befähigen. Es geht darum, Lernende erstens sensibel zu machen für die unterschiedliche Registerverwendung und es ihnen zweitens zu ermöglichen, an authentischer Kommunikation im konzeptionell mündlichen Kontext wie im Internet zumindest rezeptiv teilzunehmen.
Inhaltliche und pragmatische Aspekte
Lehrwerkentwicklerinnen und -entwickler müssen bezüglich konzeptionell mündlicher, schriftlich realisierter Texte entscheiden, wie stark Texte konzeptionell mündlich realisiert sein sollen. Bei der Einbettung der Texte sind zudem die Aufgabenstellungen relevant: Wird der Text auch inhaltlich und pragmatisch („Was wird in solchen Texten ausgedrückt?“ und „Mit wem kann man sich so austauschen?“) thematisiert oder werden nur sprachliche Besonderheiten der konzeptionell mündlichen Sprachverwendung fokussiert? Im Lehrwerk
DaF kompakt neu B1 hat man sich für Letzteres entschieden, indem ein Dialog von Textnachrichten konstruiert wird, welche konzeptionell recht mündlich sind. Eine Interjektion (Tja), Ellipsen (Weiß nicht, werde nachdenken!), Gefühlsäußerung durch Smileys und „Schreien" sowie die Verwendung der Wörter
irgendeine, irgendwas, irgendwann, irgendwo werden hier als konzeptionell mündliche Redeanteile verwendet. Letzteres wurde bewusst konstruiert, um im Anschluss einen kurzen „Grammatik-Exkurs" (eigentlich ist es Morphologie) zu diesem Phänomen folgen zu lassen.
Beispiel für die Thematisierung konzeptioneller Mündlichkeit
| Ausschnitt: „DaF kompakt neu B1", S. 36
Um sich den Unterschied zwischen konzeptionell schriftlichen und konzeptionell mündlichen Texten bewusst zu machen, kann eine exemplarische Analyse wie in der Abbildung durchaus sinnvoll sein. Allerdings sollten Lehrende auch die erwähnten inhaltlichen und pragmatischen Aspekte konzeptionell mündlicher Texte im Unterricht berücksichtigen, damit Lernenden klar wird, wann eine derartige Sprachverwendung angemessen ist.