Merck-Tagore Award 2019
Im Gespräch mit Kris Manjapra
Manjapras Buch Age of Entanglement: German and Indian Intellectuals Across Europe untersucht, wie deutsche und indische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg miteinander verbunden sind und welche wiederkehrenden Muster diese Verbindunegn aufweisen. Manjapras Buch geht über die üblichen Kritiken am Kolonialismus hinaus und findet Verbindungen, Wechselwirkungen sowie den Austausch zwischen Indern und Deutschen in den unterschiedlichsten Bereichen (z.B. Forschung, Kunst und Geisteswissenschaften). Dabei erklärt er, wie dieses Ineinandergreifen Merkmale eines globalen Zeitalters offenbaren, in dem Europa und Asien sich physisch und intellektuell näher zu sein scheinen.
Wir sprechen mit Prof. Manjapra über sein Buch und bitten ihn zu erklären, was es bedeutet, über diese Wechselwirkungen in der Gegenwart zu schreiben.
Goethe-Institut (GI): Was bedeutet es für Sie, den Merck-Tagore-Preis für Literatur 2019 zu erhalten?
Kris Manjapra (KM): Es ist eine enorme Ehre.
GI: Warum wollten Sie deutsch-indische Interaktionen wie in Age of Entanglement aufzeichnen?
KM: Ich würde nicht sagen, dass ich die deutsch-indischen Interaktionen aufgezeichnet habe, sondern dass ich mich dafür interessiere, wie sich die Geschichte außerhalb der traditionellen Kategorien von Nationalstaaten entwickelt. In meinem Buch geht es darum, wie imperiale Macht Verbindungen und Verstrickungen schafft, die unsere bekannten Parameter von Region, Nation und sogar Imperium überwältigen. Die Zeit von den 1880er Jahren bis zu den Großen Kriegen des 20. Jahrhunderts war geprägt von einer Krise der Autorität unter den etablierten Nationalstaaten und von einem starken Aufschwung des Nationalismus in der gesamten Kolonialwelt, der an unsere Zeit erinnert. Ich war daran interessiert, die indische und deutsche Geschichte im turbulenten globalen Kontext jener Zeit zu studieren, und fand heraus, dass ich ihre charakteristischen historischen Flugbahnen besser verstehen konnte, indem ich die unerwarteten Ähnlichkeiten und Beziehungen zwischen ihnen nachverfolgte. Vergessen wir nicht, dass der antikoloniale Nationalismus Indiens und der deutsche imperiale Nationalismus auf sehr unterschiedliche Weise zwei der zerstörendsten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts waren.
GI: In dem Buch diskutieren Sie mehrere Begegnungen und Interaktionen zwischen Indern und Deutschen - von Stipendien über die Politik bis hin zur Wissenschaft, die sogar die Wurzeln von Bollywood berühren. Was sagen diese Interaktionen über die indische Situation aus, wenn man bedenkt, dass Indien während der von Ihnen diskutierten Zeiten unter britischer Herrschaft stand?
KM: Der indische Antikolonialismus nutzte die Strukturen der imperialen Macht, wie sie das britische Empire erhob, aber umging sie auch gleichzeitg, umkämpfte sie, vermied und überschritt die selben auferlegten Strukturen. Das Konzept der "Verstrickung" dient dazu, diesen antikolonialen Überschuss zu erfassen, der sich aufgrund der Handlungsfreiheit und der Aktionen der Kolonisierten entwickelte. Es ist wichtig anzumerken, dass der Einfluß von Kolonialmacht heute sowohl im nationalen als auch im internationalen Rahmen immer noch weiterwirkt. Antikoloniale Widerstände gegen das Wiederaufleben der Kolonialgewalt sind im zeitgenössischen indischen Kontext ebenso wichtig zu studieren wie im historischen Rückblick.
GI: Welches sind einige der wichtigsten oder überraschendsten Begegnungen, die Sie in diesem Buch besprechen. Wie haben sie die gesellschaftspolitische Situation in Indien / Südasien beeinflusst? Geschieht das auch heute noch?
KM: Die vielleicht bedeutendsten Verwicklungen fanden zwischen deutschsprachigen Intellektuellen und einer Gruppe von Aktivisten und Wissenschaftlern statt, die in Verbindung mit dem bengalischen Nobelpreisträger Rabindranath Tagore stehen. Diese Gruppe bestand aus jungen hinduistischen, muslimischen und europäischen Kulturarbeiter*innen, die ich den "Tagore-Kreis" nenne. Mitglieder des Tagore-Kreises waren die jüdische Kunsthistorikerin Stella Kramrisch aus Wien, die Regisseurin und Schauspielerin Himansu Rai, der Mathematiker Meghnad Saha und der Ökonom Zakir Hussain. Alle diese Personen bewegten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen dem kolonialen Indien und dem deutschsprachigen Raum und versuchten, kulturelle, politische und intellektuelle Alternativen zur britischen imperialen Tyrannei zu schaffen.
GI: Wie denken Sie, wird eine anhaltende soziale und intellektuelle Beziehung zwischen Deutschland und Indien weiterhin beiden Nationen zugute kommen?
Ich glaube, dass sich die wertvollsten und mächtigsten deutsch-indischen Verbindungen weiterhin auf der Basisebene abspielen werden - zwischen Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturarbeiter*innen, die sich innerhalb und außerhalb der nationalen Zugehörigkeit bewegen. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass der Antikolonialismus in unserer Zeit lebendig ist und sich direkt in der Politik sowie auch auf der Ebene der Kultur, der Künste und der kreativen Bemühungen manifestiert. In einer Zeit wie der unseren, in der das soziale und historische Bewusstsein sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zugemauert und blockiert werden, haben grenzüberschreitende Kooperationen und Verbindungen eine neue Bedeutung für die Befreiung unseres Verstandes und die Erweiterung unseres Geistes.