Siddhartha-Rezeption in Südasien
Reise ins Selbst
Siddhartha ist eine klassische westliche Erzählung im indischen Gewand. Sie brachte dem Nobelpreisträger Hermann Hesse weltweit Anerkennung als Verfasser einer modernen deutschen Literatur. Auch auf dem südasiatischen Subkontinent trifft Siddhartha auf großes Interesse – damals wie heute.
Von Jyoti Sabharwal
Siddhartha war nicht der erste Roman von Hesse und brachte dem Schriftsteller auch nicht wie das Glasperlenspiel (1943) den begehrten Literaturnobelpreis ein. Doch der Roman machte ihn international und weit über das deutschsprachige Europa hinaus bekannt als Verfasser einer modernen deutschen Literatur.
Über Siddhartha
Der Roman spielt im 6. vorchristlichen Jahrhundert im Königreich Kapilavastu. In seinem Aufbau ähnelt er der typisch deutschen literarischen Gattung des Bildungsromans. Darin wird die moralische und geistige Entwicklung eines Protagonisten auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter nachgezeichnet. Die zwölf Kapitel des Romans sind in zwei Abschnitte unterteilt. Den ersten Abschnitt widmete Hesse Romain Rolland, dessen Werke zur asiatischen Philosophie ihn nachhaltig beeinflusst haben. Den zweiten Abschnitt widmete er seinem Cousin, dem Wissenschaftler Wilhelm Gundert, der sich mit Religionen und Sprachen Ostasiens beschäftigte.Die Erzählung folgt dem Lebensweg eines Brahmanensohns mit dem bedeutungsvollen Namen Siddhartha. Der Titelheld (der bewusst den Geburtsnamen Buddhas trägt) begibt sich, von anhaltender Rastlosigkeit und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung getrieben, gemeinsam mit Govinda, einem Freund aus Kindheitstagen, auf eine Reise ins Innere. Mit Hilfe einer vielschichtigen Kombination aus historischen Fakten und Fiktion schafft Hesse die Figur des für alle Ewigkeit verlorenen Sohns, der sich von allen familiären Bindungen und Autoritäten lossagt, um seinen eigenen Weg zu finden.
Bei dieser Figur handelt es sich keineswegs um einen Sonderfall, tritt doch der sprichwörtliche Außenseiter in vielen von Hesses Werken als Protagonist auf. Doch warum hat Hesse die Geschichte seiner Hauptfigur ins indische Altertum und in die Lebenszeit des Buddha verlegt? Wollte er auf diese Weise den Bruch mit dem schwäbischen Pietismus seiner Eltern und seine Hinwendung zu indischen Religionen bekräftigen? Seit der Veröffentlichung des Romans hat die Wissenschaft in dieser Frage unterschiedliche Standpunkte vertreten. Einigkeit herrscht dagegen über den autobiographischen Anteil. Hesse hat bekanntermaßen als Schriftsteller das eigene Leben in sein literarisches Werk einfließen lassen. Wenn man den Roman aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird deutlich, dass sich sowohl die apokalyptische Realität des Ersten Weltkriegs als auch Hesses Lebenserfahrungen und Lebenskrisen auf die Entstehung seines Werks ausgewirkt haben.
Die Indien-VERBINDUNG
Hesses Mutter wurde in Indien geboren. Hesses Großvater mütterlicherseits, Hermann Gundert, war zu dieser Zeit für die Basler Mission, eine evangelische christliche Missionsgesellschaft, mehrere Jahre in Thalassery in Kerala stationiert. Er verfasste das erste Malayalam-Englisch-Wörterbuch, übersetzte die Bibel ins Malayalam und schrieb mehrere Abhandlungen zu indischen Sprachen, Gesellschaft und Religion. Hesse, der die Privatbibliothek seines Großvaters mit zahlreichen Büchern zu indischen und östlichen Religionen und Philosophie geerbt hatte, entwickelte bereits in jungen Jahren ein Interesse und wissenschaftliches Verständnis für diese Themen. Ganz in der Tradition des deutschen Orientalismus, der seine Wurzeln in der Romantik des 18. Jahrhunderts hatte, machte Hesse somit das alte Indien zum Schauplatz für seinen Roman.Ebenfalls Einfluss auf Hesses Gefühlswelten hatten Friedrich Nietzsche und sein Psychotherapeut Karl Gustav Jung. Hesses Werk ist sowohl vom Geist von Nietzsches Zarathustra als auch von Jungs Archetypen geprägt. Einen weiteren wichtigen Einfluss auf Hesses literarisches Werk hatte auch seine Asienreise 1911. Auf dieser Reise wollte er Abstand zu Europa und zur europäischen Gesellschaft gewinnen, die ihm hohl und instabil erschien, und das Geburtsland seiner Mutter besuchen. Sie war außerdem als Pilgerreise in das Land der alten Weisheit gedacht.
Siddhartha und der Hesse-Boom der 1960er-/1970er-Jahre
Siddhartha hat mit seinen philosophischen Weisheiten aus Indien und seiner persönlichen, symbolträchtigen und einfachen, aber auch hochpoetischen Sprache die Fantasie der Weltkriegsgeneration beflügelt. Viele Menschen in der westlichen Welt waren ernüchtert angesichts des Missbrauchs von Wissenschaft und Technik und suchten Trost in der Philosophie des Ahimsa und in den religiösen Wertesystemen des Ostens. Hesse bewegte seine Zeitgenossen mit seinem Werk dazu, nach Alternativen zu der beinahe apokalyptischen Realität Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu suchen. In der englischsprachigen Welt war Hesse allerdings eher unbekannt, bevor er den Literaturnobelpreis erhielt und englische Übersetzungen seiner Romane in Auftrag gegeben wurden.Die erste englische Übersetzung des Siddhartha von Hilda Rosner erschien 1951 in den USA. Das Buch erlangte allerdings erst mit dem Hesse-Boom der 1960er- und 1970er-Jahre einen Kultstatus. Nahezu 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung gelang es dem Roman, die Ängste und Enttäuschungen der Jugend dieser Zeit nicht nur in den Ländern des Westens, sondern auch in Indien einzufangen. Dazu gehörten auch die Studentenproteste an der Pariser Sorbonne, die sich 1968 zu einer paneuropäischen Studentenbewegung entwickelten und sich bald auch in Nordamerika und in Teilen Asiens ausbreiten sollten.
Die Entfremdung vom bürgerlichen Leben der Eltern und das Streben nach Frieden und Selbstverwirklichung der Woodstock-Generation fanden einen Widerhall in der fiktionalen Welt, die in Siddhartha entworfen wird. Innerhalb dieser Gegenkultur entwickelte sich Hesse zu einer Art Guru und sein Roman zu einer Landkarte für die Suche nach indischer Spiritualität. In der Folge wurden weltweit 100.000 Exemplare des Romans verkauft.
Die Rezeption von Siddhartha in Indien
In Indien gehört der Text zu den Lektüreempfehlungen für Kurse zur deutschen Literatur. Ferner wurde er in zahlreichen akademischen Arbeiten wie Dissertationen oder wissenschaftlichen Artikeln behandelt. Allerdings stieg der Bekanntheitsgrad des Romans auch in Indien erst mit dem Hesse-Boom der 1970er-Jahre, der auch eine Romanverfilmung in englischer Sprache unter der Regie von Conrad Rooks zur Folge hatte. Die Hauptfiguren in Siddhartha (1972) wurden von den beiden äußerst populären indischen Schauspielern Shashi Kapoor und Simi Grewal verkörpert. Unter Leitung der 2005 in Thalassery gegründeten Hermann Hesse Society of India (HHSI) wurden Übersetzungen von Hesses Werken und insbesondere von Siddhartha in alle großen indischen Sprachen wie Hindi, Urdu, Gujarati, Punjabi, Tamil, Malayalam und Sanskrit angefertigt. Mit Übersetzungen in mehr als 60 Sprachen der Welt ist Siddhartha außerhalb des deutschsprachigen Europa der meistgelesene Roman, der in Indien spielt.Wegen seiner unendlichen Reise in das Selbst hat der Roman bis heute und für alle Generationen nichts von seiner Relevanz verloren.