Mein Hermann-Hesse-Moment
Nicht für jedermann
Hermann Hesse pflegte zeitlebens sein Außenseitertum und sprach uns doch allen aus der Seele. Seit 50 Jahren ist er nun tot, doch über die Krise des modernen Menschen hat er uns immer noch viel zu sagen. Mein Hesse-Moment
Von Sarah Maria Deckert
Auf dem allmählich vergilbenden Schmutztitel meiner Taschenbuchausgabe von Gabriel García Márquez’ 100 Jahre Einsamkeit steht ein handschriftlicher Vermerk: „Lies einmal etwas Vernünftiges!“ Mein Sozialkundelehrer hatte diese gut gemeinte Notiz damals hier hinterlassen und mir das Buch ansonsten kommentarlos und mit nachhaltiger Wucht in die Hand gedrückt. Ich sollte es lesen. Erstens, weil er es für lesenswert hielt. Und zweitens, weil er mir zeigen wollte, worin der Unterscheid zwischen lesenswerten Autoren und weniger lesenswerten bestand.
Seine Häme galt Hermann Hesse. In einem leidenschaftlichen Monolog hatte ich noch eine Woche zuvor auf der Studienfahrt nach Brüssel in einem lauten irischen Pub Hesses Werk mit unbeirrbarer Vehemenz gegen seine, für mein Empfinden, haltlosen Verbalhiebe zu verteidigen versucht. Ganz offensichtlich hielt er es für wenig vernünftig. Ich tat es ihm daraufhin jedenfalls gleich, kaufte in der nächstgelegenen Buchhandlung den Steppenwolf, vermerkte sicherlich etwas ähnlich gut gemeintes auf der Innenseite und warf ihm die Ausgabe am nächsten Tag schier vor die Füße. (Natürlich nicht wirklich, immerhin war er mein Lehrer – und ein guter noch dazu. Aber geworfen hätte ich gerne.)
Seither weiß ich jedenfalls, was ich damals nicht für möglich hielt: Es gibt solche und solche. Es gibt Hesse-Kritiker wie meinen ehemaligen Sozialkundelehrer mit dem bekannten Argument, Hesse könne man ja nur in der Jugend und noch einmal im Alter lesen. Und selbst dann ermüde sein ewig gleicher Kanon, diese hoffnungslos romantische, esoterisch-kitschige Weltabgewandtheits-Prosa, die man schon in Casper David Friedrichs Gemälden zur Genüge gesehen hätte und nun unnötigerweise zu lesen bekommt. „Seltsam, im Nebel zu wandern / Leben ist Einsamkeit / Kein Mensch kennt den andern / Jeder ist allein.“
Und dann gibt es jene Hesse-Jünger wie mich, die dem messianischen Schwaben auf ewig huldigen werden, weil er sie einmal zum Licht geführt hat. Jene, die seine Bücher einatmen, eins nach dem anderen, bis alles drin ist, der ganze Zauber.
Und wie bei jeder Erleuchtung gibt es auch bei Hesse diesen Moment. Meinen hatte ich mit 14 Jahren. Eine gute Freundin lieh mir eine prächtig gebundene Ausgabe von Siddharta. Und weil sie sagte, dass man es gelesen haben müsse, und weil ich viel auf ihr Wort gab, zog ich mich damit zurück und versuchte mich an der indischen Dichtung von 1922 – und verstand kein Wort. Zwei Jahre ließ ich Govindas Geschichte ruhen, um dann einen zweiten Versuch zu wagen. Kein anderes Buch in meinem Regal ist heute derart abgegriffen.
Stefan Zweig soll Hermann Hesse einmal besucht haben und betrat vor Euphorie so eilig das Haus, dass ihn der nächste Holzbalken an der niedrigen Decke direkt niederstreckte. Betritt man Hesses Welt zum ersten Mal, geht es einem beim Lesen nicht anders. Seine Worte strecken einen nieder, rauben einem die Sinne, literarisches Opium, das das Bewusstsein in Sphären empor trägt, von denen man vorher nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Der Rest ist ein Bekenntnis, das man ablegt, oder eben auch nicht: Entweder man tritt über die Schwelle oder man bleibt vor der Tür stehen, bleibt ewiger Zaungast Hesses magischen Theaters.
Eintritt nicht für jedermann
– nicht für jedermann.
Der Versteher der unverstandenen Jugend
Das eigentlich Paradoxe an Hermann Hesse ist, dass er einem direkt aus der Seele sprach, der unverstandenen Jugend mit ihrem wohlig-warmen Weltschmerz, mit ihrer Einsamkeit und dem Liebesleiden, in dem man sich so ausgiebig suhlen konnte. Dabei stand er Zeit seines Lebens eigentlich niemandem wirklich zur Verfügung. Nicht seinen drei Ehefrauen, nicht seinen Kindern. Der Beerdigung seiner Mutter blieb er gleich ganz fern – aus Trotz. Welchen anderen Grund hätte es für Hesse sonst gegeben? Zu Empathie war er eben nur mäßig fähig, dieser elende Narziss. Als Ruhelosen hielt es ihn nirgends, und wann immer es im möglich war, entzog er sich, häutete sich, wechselte Frauen, Orte und Rollen, Stuf’ um Stufe. Buch für Buch schrieb er sich eine zweite Wirklichkeit zurecht, eine Parallelwelt, in die er schlüpfen konnte, wie unter eine Decke. Eine Welt, die er schuf, um die eigentliche besser zu ertragen, durch die er sich manchmal so ungelenk bewegte. Wie kein anderer wusste er um die Dialektik des Außenseitertums und verteidigte das Individuum gegen jedwede Vermassung, gegen jedes Glücksversprechen, das ihm das gesellschaftliche Leben weismachen wollte.
Der rebellische Stinkefinger, mit dem ihn der Spiegel in seiner letzten Ausgabe zum 50. Todestag des Schriftstellers versah, ist vielleicht ein bisschen viel. Aber eine Art Kainsmal trug Hermann Hesse dennoch überdeutlich vor sich her. Damit wollte er sich frei machen von dem konventionellen Korsett seiner Generation. Für mich war er dennoch nie dieser provozierende Rebell, sondern immer mehr der elegische Eremit, der Steppenwolf, Friedrichs Mönch am Meer.
Die Frage, die ihn dabei immer umtrieb, war die nach der menschlichen Bestimmung. Über verschlungene Pfade führten seine Geschichte dann zum eigenen Ich, irgendwo nach Hinterindien, wo man dann an einem Fluss leise „Om“ summte. Hesse zu suchen, bedeutete also, bei sich zu suchen, in sich hineinzuhorchen, mit dem Mut zum Eigensinn. So schrieb er 1917: „Wir sind Menschen. Und für den Menschen gibt es nur einen natürlichen Standpunkt, nur einen natürlichen Maßstab. Es ist der des Eigensinnigen.“ Das war schon damals ein guter Rat. Und heute, in Zeiten, in denen die institutionelle Globalisierungsmaschinerie alles gleich machen will, diesen elenden Einheitsbrei gebiert, könnte seine Botschaft nicht aktueller sein.
Hesses Werk las sich für mich wie ein einziger großartiger Schrei nach Seele und Sinn, nach Liebe und Wiedergeburt. Seine Romane sind Parabeln, Legenden und Abenteuerreisen, immer mit diesem empfindsamen Drängen, mit diesem Glühen, das jeder irgendwo in sich trägt. Ich weiß bis heute nicht, ob mein Sozialkundelehrer diese Faszination nachträglich jemals begriffen hat. Vielleicht hatte er ja inzwischen seinen Hesse-Moment. Vielleicht kommt er noch. Vielleicht auch nicht. Hesse ist nun mal nicht für jedermann.