Graphic Novel
Ein zweites Leben für die Opfer

Szene aus „Rozsika“;
Szene aus „Rozsika“; | Foto (Ausschnitt): © Tobias Dahmen/Avitall

Ein jüdisches Mädchen, das im Holocaust umgebracht wurde, lebt in einer Graphic Novel weiter – Jugendliche schreiben seine Geschichte fort. Ein Interview mit Avitall Gerstetter, Kantorin der Jüdischen Gemeinde Berlin und Initiatorin des Projekts „We will call out your name“.

Frau Gerstetter, würde Ihre Großtante Rozsika noch leben – wo wäre sie in diesem Moment, was würde sie tun?

Das sind genau die Fragen, um die es in dem Projekt geht und die ich mir häufig stelle: Was wäre aus den Menschen geworden, denen es nicht vergönnt war, den Holocaust zu überleben? Oder: Wie wäre ihr Leben verlaufen, hätte es den Holocaust gar nicht gegeben? Würde ich diese Fragen mit Blick auf Rozsika jetzt beantworten, würde ich allerdings etwas vorwegnehmen. Wo dieses Mädchen heute wäre, das im Alter von sieben Jahren in Auschwitz umgebracht wurde, ist noch nicht erdacht.

Sie entwickeln die Geschichte derzeit für eine Graphic Novel und laden Jugendliche ein, daran mitzuwirken. Sie selbst tauchen in der gezeichneten Geschichte ebenfalls auf.

Als Mittlerin aus der Gegenwart, als lebende Person, schaffe ich einen direkten Zugang. Figuren wie Rozsika und ihre Freundin kommen mir – symbolisch gesprochen – über eine Brücke entgegen, ich nehme sie an die Hand und zeige ihnen, wie ich heute lebe. Sie wiederum erzählen mir, wie damals ihre Lebensumstände waren. Ich gehe mit ihnen durch die Zeiten und dabei entwickeln sie sich weiter, machen ihren Schulabschluss, lernen einen Beruf.

Wenn wir an Aufarbeitung denken, haben wir Berichte von Zeitzeugen im Sinn oder die Aufdeckung historischer Fakten. Sie tun etwas völlig anderes – Sie arbeiten fiktional. Warum?

Scene aus „Rozsika“;
Scene aus „Rozsika“; | © Tobias Dahmen/Avitall Gerstetter
Auf die Idee zu We will call out your name kam ich durch eine Rede des ehemaligen israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres in Berlin. Er warf darin die Frage auf, was sich die Holocaust-Opfer heute von uns wünschen würden. Seine Antwort war: dass wir ihre Geschichte weitererzählen. Ich fand das sehr logisch. Die Stimmen derer, die von den Verbrechen aus eigener Erfahrung berichten können, werden immer schwächer. Wir brauchen einen neuen Ansatz, um für mehr Identifikation zu sorgen. Ich finde es wichtig, dass sich gerade junge Menschen intensiv mit den Biografien der Opfer befassen. Nur so können sie den verschiedenen Charakteren wirklich näherkommen, statt sie bloß von außen zu betrachten.

„Eine neue Erinnerungskultur schaffen“

Ist Ihr Ansatz auch als Ausbruch aus „konventionellen“ Formen des Gedenkens zu verstehen?

Ja, unbedingt. Ich möchte eine neue Erinnerungskultur schaffen. Ich möchte, dass Jugendliche die Opfer nicht nur in dieser drögen, typischen Weise würdigen, in der es meistens geschieht, sondern dass sie sich die Freiheit nehmen, weiterzudenken. Wir haben es heute mit einer neuen deutschen Gesellschaft zu tun, mit Generationen, die zur Schoah keinen direkten Bezug mehr haben. Sie dürfen dennoch nie vergessen, was gewesen ist, und sie dürfen die Menschen nicht vergessen, die umgebracht wurden. In dem Moment, in dem wir nicht mehr über sie reden, sind sie wirklich tot. Einmal im Jahr ihre Namen vorzulesen – das ist wichtig und gut, aber die tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Völkermord finde ich noch entscheidender. Es ist doch ein viel größerer Schock, wenn ich mich mit einer Person wirklich identifiziere.

Es ist ein Schock – aber hat dieses „Weiterleben lassen“ nicht auch etwas Tröstliches?

Absolut. Es hat etwas Tröstliches, dass diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten, dass ihre Namen wieder erklingen, dass wir über sie sprechen, obwohl sie schon lange nicht mehr unter uns sind. Nur so leben sie weiter – übrigens ein sehr jüdischer Gedanke.

„Den Figuren ein Gesicht geben“

Ihr Konzept hätte man auch als Jugendroman umsetzen können. Warum eine Graphic Novel?

Mir war wichtig, den Figuren ein Gesicht zu geben, damit die jungen Leser sie mit allen Sinnen erfassen können. Wenn ich nur über diese Menschen schreibe und sie mit Worten charakterisiere, ist das zu wenig. Die neue, moderne Form der Graphic Novel schien mir geeigneter. Viele Graphic Novels bearbeiten sehr ernste Themen in einer leichten und doch eindringlichen Form. Dieses Medium passt gut in unsere schnelllebige, Internet-orientierte Zeit.

Wie läuft das Projekt konkret ab, an welcher Stelle beginnt der „interaktive Teil“, in dem Jugendliche sich einbringen können?

Gemeinsam mit einem Autor und einem Zeichner erzähle ich die Geschichte von Rozsika bis zu einem bestimmten Punkt. Die Ausgangslage soll präsentiert werden, es soll einen Grundstock geben, an den die Jugendlichen anknüpfen können. Dann sind sie aufgefordert, mitzuwirken und die Geschichte des Mädchens und anderer Figuren weiterzuspinnen. Einige ihrer Ideen werden wir in die Graphic Novel übernehmen. Auch aktuelle Themen und Schicksale aus der Jetzt-Zeit sollen dabei einfließen.

Wird es am Ende eine große, gemeinsame Veröffentlichung geben?

Für mich ist es ein fortlaufendes Projekt – wir wollen nicht ein einzelnes „Endprodukt“ entwickeln, sondern eine lebendige Zeit-Novel. Sie soll die Opfer immer wieder in Erinnerung bringen, ohne dabei den Faden zur Gegenwart zu verlieren.

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