Deutsche Comics
Auf dem Sprung ins weibliche und digitale Zeitalter
Deutsche Comics sind bei Kritikern und Publikum erfolgreich. Im Trend liegen vor allem Themen der Zeitgeschichte, neue Erzählformen und Comics von Zeichnerinnen.
Dem Jahr 2016 wird wohl einmal ganz besondere Bedeutung für den deutschen Comic zugesprochen werden. Denn bei der Verleihung des bedeutenden Max und Moritz-Preises während des Internationalen Comic-Salon Erlangen geschahen gleich mehrere außergewöhnliche Dinge. Schon an der Liste der 24 nominierten Titel ließ sich die Zeitenwende ablesen. Denn über drei Jahrzehnte waren meist importierte Comic-Bände aus den USA und dem französischen Sprachraum Kandidaten für die Auszeichnung. Doch 2016 bestand die Mehrheit der nominierten Comics erstmals aus deutschsprachigen Eigenproduktionen. Damit dürfte die auch in der Szene gerne kultivierte Einschätzung vom „Comic-Entwicklungsland Deutschland“ endgültig ausgedient haben.
Comic ist Frauensache
Mindestens genauso auffällig: An fast einem Drittel aller Titel auf der Nominierungsliste waren Künstlerinnen beteiligt. Auch dies ein Rekordwert, der so noch vor wenigen Jahren undenkbar schien. Alle Kategorien, in denen sich nationale Comic-Künstler durchsetzten, gingen mit nur einer Ausnahme an Künstlerinnen. Als „bester deutschsprachiger Comic-Künstler“ wurde sogar schon zum dritten Mal in Folge eine Frau geehrt. Nachdem 2012 und 2014 Isabel Kreitz und Ulli Lust ausgezeichnet wurden, ging der begehrteste deutsche Comic-Preis 2016 an Barbara Yelin.Die Münchnerin überzeugte zuletzt mit Irmina, einer Geschichte über verpasste Chancen während der Zeit des Nationalsozialismus. Inspiriert wurde Yelin von den Erlebnissen ihrer Großmutter. Dabei ist Irmina keine große Heldin, sondern arrangiert sich schließlich mit dem Leben im Nationalsozialismus und handelt dabei (schrecklich) normal.
Zeitgeschichte dominiert
Irmina wurde von der Kritik begeistert aufgenommen – und erwies sich auch beim Publikum als Bestseller. Die Graphic Novel stand damit exemplarisch für eine Reihe neuer Comic-Bände über Ereignisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In Kinderland schildert etwa der Berliner Zeichner Mawil sein Alltagsleben als Kind in Ostdeutschland. Die Leser bekommen dabei ein sehr eindringliches Gefühl für die Verhältnisse im Jahr des Mauerfalls.Noch mehr Unbekanntes aus der DDR-Zeit gibt es in Madgermanes von Birgit Weyhe zu entdecken. Madgermanes nennen sich die in Mosambik angeworbenen Arbeiter, die in den 1970er-Jahren in die DDR kamen, aber nach 1990 nicht im vereinigten Deutschland bleiben durften. Zurück in Afrika fühlten sich viele der mehreren Hunderttausend Menschen um ihre Zukunft und große Teile ihres zu DDR-Zeiten zurückbehaltenen Lohnes betrogen. Ein Unrecht, auf das jetzt eine Comic-Künstlerin die Aufmerksamkeit lenkt, die selbst in Afrika aufgewachsen ist.
Online veröffentlichen
Birgit Weyhe erhielt für Madgermanes den Max und Moritz-Preis 2016 in der Kategorie „Bester deutschsprachiger Comic“. Für den „besten Comic-Strip“ wurde Katharina Greve ausgezeichnet. Traditionell war dies die Kategorie für Zeitungs-Comics. Doch 2016 erweiterte die Jury die Strip-Kategorie um Veröffentlichungen im Internet. Viele online publizierte Werke besitzen eine inhaltliche wie auch formale künstlerische Nähe zu klassischen Comic-Strips. Auch im Internet werden viele Comic-Inhalte in kurzen Episoden veröffentlicht.Genau dies tut auch Katharina Greve, deren wöchentlich hochgeladenen „Strips“ für komplette „Etagen“ stehen, mit denen Sie ein ganzes Haus digital entstehen lässt. Deshalb heißt ihr Web-Comic auch Das Hochhaus – 102 Etagen Leben. Die episodische Vorgehensweise ermöglicht es ihr, sowohl einen großen Erzählbogen zu entwerfen als auch auf ganz aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie die Flüchtlingskrise zu reagieren. 2017 soll das Hochhaus fertig sein, kündigte Greve an.
Vorabpräsentation im Internet
Die Verbreitung eigener Werke im Internet stellt gerade für unbekanntere Comic-Zeichner eine Möglichkeit dar, sich vorzustellen. So startete der saarländische Zeichner Erik im Web deae ex machina, wo er mystische Elemente mit den technischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konfrontiert. Erst nachdem die Internetveröffentlichung für viel Aufmerksamkeit sorgte, wurde die formal klassisch angelegte Serie dann in einem Printmagazin gedruckt und kam als Albenserie bei einem Verlag heraus. Auch später als Graphic Novels im Buchhandel erfolgreiche Werke wie Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens von Ulli Lust oder Fahrradmod von Tobi Dahmen wurden zunächst im Internet veröffentlicht. Für solche Werke von vielen hundert Seiten lässt sich im Vorfeld nur schwer ein Verlag finden, die Fertigstellung zieht sich über Jahre. Eine Vorabpräsentation im Internet erlaubt während der langen Entstehungszeit schon erste Resonanz des Publikums.Experimentelle Erzähltechniken
Die digitale Welt macht zudem neue Erzähltechniken möglich. Das zeigt eindrucksvoll Wormworld Saga von Daniel Lieske. Der Digital-Comic setzt die „unendliche Leinwand“ ein. Statt sich von Seite zu Seite zu klicken, scrollt der Leser hier durch die Geschichte. Union der Helden von Arne Schulenberg wiederum ist ein Foto-Comic über Superhelden aus Deutschland – aufgepeppt durch eine Reihe von Flash-Animationen. Und bei Zuhause während der digitalen Revolution sticht heraus, dass der Zeichner Digirev alias Wolfgang Buechs seine Online-Strips zwar so anlegt, dass sie Bild für Bild gelesen werden können, doch immer wieder erlauben „Weiter“-Pfeile an allen Seitenrändern aus dem linearen Lesen auszubrechen und einfach eine andere Abzweigung zu nehmen.Wie sehr diese Entwicklungen dauerhaft tragen, muss sich zeigen. Doch dass der deutsche Comic immer stärker von Frauen und der digitalen Welt geprägt wird, dürfte eine unumkehrbare Entwicklung sein. Sie wird zu weitreichenden Umwälzungen in der sonst immer noch sehr männlichen und analogen deutschen Comic-Szene führen. Auch wenn der Umsatzanteil digitaler Comics im niedrigen einstelligen Prozentbereich stagniert, ist es bezeichnend, dass fast ein Viertel der nominierten Comics beim Max und Moritz-Preis 2016 ursprünglich im Internet veröffentlicht wurde. Als künstlerisches Experimentierfeld erweist sich das Web gerade für den deutschsprachigen Comic als großer Glücksfall.