50 Jahre ECM
Auf einer anderen Wellenlänge
Vom Nischenlabel zu einem der erfolgreichsten Plattenlabel der Welt: ECM Records aus München hat im letzten halben Jahrhundert nicht nur Weltstars aus Jazz und Klassik produziert, sondern auch eigene Akzente in der Musikwelt gesetzt.
Von Roland Spiegel
Modernes Design und kreative Typografie, die Plattencover könnten auch Umschläge von Lyrikbänden sein: Die edle, künstlerisch anspruchsvolle Ästhetik steht für das 1969 gegründete Münchner Plattenlabel ECM („Edition of Contemporary Music“), das populäre Interpreten wie Carla Bley, Keith Jarrett, Pat Metheny oder Anna Gourari produziert. Einst ein Avantgarde-Jazz-Label mit bescheidenen Anfängen, ist ECM heute eines der erfolgreichsten Plattenlabels der Welt – nicht nur für Jazz, sondern auch für klassische und zeitgenössische Musik. In den vergangenen Jahren hat ECM unter Leitung des Gründers und Produzenten Manfred Eicher elfmal die Spitzenposition für „Label of the Year“ und „Producer of the Year“ in der Kritiker-Umfrage des US-amerikanischen Magazins Down Beat belegt. Zu den bisher 1.600 veröffentlichten Alben gehören Bestseller wie Keith Jarretts 1975 aufgenommenes Köln Concert – mit einer Auflage von mittlerweile rund vier Millionen das meistverkaufte Klavier-Soloalbum aller Genres –, Produktionen der magisch-einfachen Klangsprache des estnischen Komponisten Arvo Pärt, die Gesamtaufnahme der 32 Klaviersonaten Beethovens durch András Schiff oder auch die Kammer- und Orchestermusik des österreichischen Komponisten Thomas Larcher.
Auf einer anderen Wellenlänge
Im Jahr 1969, als in der Rockmusik die Klassiker Abbey Road von den Beatles und Tommy von The Who entstanden, begann auch die Geschichte von ECM: Damals schickte sich der studierte Kontrabassist Manfred Eicher an, Musik unter eigenem Label zu produzieren. Das Geld dafür bekam er vom Unternehmer Karl Egger. Dieser stellte ihm auch Räume zur Verfügung, wurde Mitbegründer und zusammen mit Eicher Geschäftsführer des Labels. Die erste Veröffentlichung: das am 24. November 1969 aufgenommene Album Free at last des amerikanischen Pianisten Mal Waldron.
Waldron, einstiger Begleiter der großen Swing-Sängerin Billie Holiday und Band-Mitglied beim Bassisten Charles Mingus, lebte damals in München und war mit seinem kantigen, profilstarken Spiel genau die Gestalt, die ein neues Label brauchte. Den Slogan Free at last – angelehnt an die letzten Worte in Martin Luther Kings berühmter Rede I have a dream aus dem Jahr 1963 – bezog der Pianist auf die Musik, die er hier spielte: Free Jazz. Zugleich war der Plattentitel für das erste Produkt eines freien Labels programmatisch: Es stand für freie Musikproduktion unabhängig von großen Konzernen in einer kleinen Firma. Oder wie das US-amerikanische Magazin Jazz Times schreibt: „Es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand, der damals Free at Last hörte, dem frisch gegründeten Label größere Beachtung schenkte. Aber auch eine missachtete Botschaft ist eine Botschaft: Wir sind auf einer anderen Wellenlänge.” (Engl. Original: "It's doubtful that anyone who heard Free at Last in its day took particular notice of its fledgling label, but an unheeded message is still a message: We're on a different wavelength.")
Luftkunst als Klangsprache
Es war diese andere Wellenlänge, die eigene Klangfarbe, die ECM später ermöglichte, Weltstars wie den Pianisten Keith Jarrett für sich zu gewinnen. Manfred Eicher schrieb dem damals schon bekannten Musiker einen Brief und schickte ihm eine Testpressung einer seiner aktuellen Produktionen mit. In dem Brief legte er Jarrett seine Vorstellungen dar, wie die Töne des Musikers seiner Meinung nach aufgenommen werden sollten. Keith Jarrett ging darauf ein und nahm am 10. November 1971 in Oslo das Solo-Album Facing you für ECM auf. Neben dem Spitzenreiter Köln Concert gehört auch Jarretts The melody at night, with you (1999) zu den erfolgreichsten ECM-Produktionen: Mit rund 800.000 verkauften Exemplaren folgt es an fünfter Stelle hinter Offramp von Pat Metheny, Officium von Jan Garbarek mit dem Hilliard Ensemble und Return to Forever von Chick Corea, die alle bei etwa 1,1 Millionen liegen.
ECM hat vor allem mit seiner Ästhetik einer „Luftkunst“, wie er die Musik nennt, die Sensibilität vieler Hörer auf der Welt geschärft – einer Klangsprache, die möglichst viel Luft zwischen den Tönen lässt. Zudem publiziert das Label Musik, die auf feinfühlige Art unterschiedliche Welten verbindet, wie die des tunesischen Oud-Spielers Anouar Brahem. Auch im zeitgenössischen Jazz hat ECM in den vergangenen Jahren mit Veröffentlichungen etwa der Trompeter Ralph Alessi und Avishai Cohen oder des Klarinettisten Louis Sclavis viel Sinn für das Außergewöhnliche gezeigt. Eicher sagt, ihn interessiere besonders „Musik an den Rändern“. Denn: „Wir müssen wieder das Zuhören lernen – mit offenen Ohren. Auch das Zuhören bei Musik, die uns zunächst fremd erscheint.“