Der Spielraum der Ungewissheit ist exponentiell gewachsen, ebenso wie die Verbreitung des Virus; wir wissen nicht, was geschehen wird, nicht einmal in allernächster Zeit. Und ich glaube, dass dieses Nichtwissen entscheidend ist für diesen Schwebezustand. Was wir nicht wissen, überwiegt. Die tiefe Notwendigkeit nach Gewissheiten, selbst den bescheidensten, macht uns ein ums andere Mal deutlich: Wir stecken fest in dem, was wir nicht wissen.
Von Martín Kohan
Was versinnbildlicht für Sie die aktuelle Situation persönlich oder in Ihrem Land?
Fast vierzig Jahre lang war ich keine vierundzwanzig Stunden hintereinander zu Hause, außer wenn ich krank war (und in diesem Fall habe ich den Tag im Bett verbracht, nicht allgemein zu Hause). Denn eine Wohnung ist kein Ort, an dem ich mich gerne aufhalte; ich mag es, unterwegs zu sein, in verschiedenen Cafés zu sitzen und durch die Gegend zu schlendern. Der Rückzug ins Zuhause hat mich dazu gezwungen, neue Räume, ja sogar neue Formen des Daseins zu erfinden, die ich nicht kannte. Heute vermisse ich Buenos Aires. Was ich in dieser Eingeschlossenheit fühle, ähnelt also paradoxerweise dem, was ich fühle, wenn ich auf Reisen bin: Ich habe Lust, wieder in Buenos Aires zu sein - obwohl ich in Buenos Aires bin. Aber wenn ich runter an die Tür gehe oder in der Nähe einkaufe, ist die Stadt leer, still, allein, schweigsam. Die Stadt ist auch abwesend. Dieses Bild von der Stadt ohne Menschen, sogar ohne sie selbst, fasst meine Erfahrung dieser Tage zusammen.
Wie wird die Pandemie die Welt verändern? Welche langfristigen Folgen der Krise sehen Sie?
Das weiß ich nicht. Wenn es etwas gibt, womit wir heute nicht rechnen können, womit wir weniger denn je rechnen können, dann ist das eine Perspektive auf lange Sicht. In Ländern wie Argentinien, wo fast alles prekär und unbeständig ist, sind wir vielleicht eher daran gewöhnt, mit einer kurzfristigeren Zukunftsperspektive umzugehen. Aber in Zeiten der Pandemie hat sich selbst das verändert: Das Kurzfristige ist extrem kurzfristig geworden. Der Spielraum der Ungewissheit ist exponentiell gewachsen, ebenso wie die Verbreitung des Virus; wir wissen nicht, was geschehen wird, nicht einmal in allernächster Zeit. Und ich glaube, dass dieses Nichtwissen entscheidend ist für diesen Schwebezustand. Was wir nicht wissen, überwiegt. Die tiefe Notwendigkeit nach Gewissheiten, selbst den bescheidensten, macht uns ein ums andere Mal deutlich: Wir stecken fest in dem, was wir nicht wissen. Und wenn diejenigen, die am meisten wissen, aufrichtig sind, geben sie zu, wie viel sie eigentlich noch nicht wissen.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Ich habe nicht gesagt, dass ich Hoffnung habe. Hoffnung worauf? Dass es eine Behandlung für das Coronavirus geben wird? Irgendwann wird es eine Behandlung geben. Ein Impfstoff wird gefunden werden. Hoffnung darauf, dass der Impfstoff, wenn er endlich entdeckt ist, eine Lösung für alle auf der Welt darstellt und nicht für ein ruchloses Geschäft der Pharmaindustrie genutzt wird, die sich mit so etwas auskennt? Das ist keine Hoffnung, ich würde das eher als Forderung bezeichnen. Hoffnungen darauf, dass die Dinge auf der Welt besser werden? Im Zuge der Pandemie entsteht soziale Solidarität, aber gleichzeitig entstehen auch Argwohn, Feindseligkeit und eine bemerkenswerte Leidenschaft für Überwachung. Hoffnungen darauf, dass das öffentliche Gesundheitssystem – von vielen Regierungen in der Welt vernachlässigt und geschwächt – wieder Investitionen und Unterstützung erhält, die ihm seit langem entzogen wurden? Das ist keine Hoffnung, das ist ebenfalls eine Forderung. Es sei denn, wir definieren die Forderung als eine Hoffnung, die politische Bedeutung bekommt.