„Sieben Sommersprossen“ & „Sonnenallee“
The Kids Are Alright
Fühlten diejenigen, die in der Deutschen Demokratischen Republik groß wurden, die bedrückende Last der Mauer? Hat es ihre Reise ins Erwachsenendasein erschwert? Michael Tager analysiert zwei Filme über Jugendliche in der DDR.
Von Michael Tager
Wie gedeiht man, umgeben von Mauern, die Straßen und Familien voneinander trennen? Das muss einen Eindruck hinterlassen, oder? Es muss Spuren der Berliner Mauer bei den Generationen geben, die mit ihr aufwuchsen. Fühlten diejenigen, die in der Deutschen Demokratischen Republik groß wurden, die bedrückende Last der Mauer? Hat es ihre Reise ins Erwachsenendasein erschwert? Es scheint auf der Hand zu liegen, dass die Existenz der Mauer eine tiefgreifende Auswirkung auf die Jugend zu jener Zeit gehabt haben muss. Und vermutlich hat sie das, aber vermutlich eben auch nicht. Jugendliche sind Jugendliche. Wo immer sie sind, was immer um sie herum geschieht.
Obwohl Sieben Sommersprossen 1978 in die Kinos kam und Sonnenallee 20 Jahre später, spielen beide Filme mehr oder weniger zur gleichen Zeit, inmitten der DDR-Ära. Und kreisen beide um das zeitlose Thema vom Ende der Kindheit.
Sieben Sommersprossen ist ein hübscher Film über ein Sommerferienlager für heranreifende Jugendliche, eine letzte Möglichkeit für Liebeleien, Sport, Shakespeare, heimliche Treffen, ein erster Gedanke an Rockmusik und das Erwachsenendasein. „Ich möchte nicht erwachsen werden“, sagt Karoline. „Wir sind im Niemandsland“, erwidert Robbi in dem Wissen, dass die Kindheit hinter ihnen liegt. Sie sind so ernsthaft, wie es nur Jugendliche im Angesicht des Unvermeidlichen sein können.
Sommermomente sind von zentraler Bedeutung, mit niedrigen Einsätzen wird hoch gepokert. Abgesehen von einer Anspielung auf den Krieg und die Erschießung eines Republikflüchtlings scheint die DDR kaum zu existieren. Nur das Hier und Jetzt ist wichtig. Schließlich „reagieren sie nur auf Rockmusik“, was ganz offenkundig falsch ist. Oder eben auch nicht.
In Sonnenallee sind die Jugendlichen tatsächlich nur für Rockmusik empfänglich – besonders für die Rolling Stones. Aber hinter dem Rock ’n’ Roll, den sexuellen Begierden und dem allgemeinen Jungengehabe steht ein tatsächlicher Reifeprozess. Sollen die Jungen aus Sonnenallee der Partei beitreten, zur Armee gehen? Das sind echte Fragen. Allem Spaß zum Trotz steht viel auf dem Spiel.
Sonnenallee ist ein rückwärtsgewandter, nostalgisch verklärter Blick auf eine merkwürdige Zeit an einem merkwürdigen Ort. „Es war einmal ein Land, und ich hab‘ dort gelebt”, sagt Micha. „Wenn man mich fragt, wie‘s war: Es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich war jung und verliebt.“ Er steht an der Schwelle zum Erwachsenwerden, aber er hat keine Angst. Er ist verwirrt, er macht Dummheiten, doch er ist bereit dafür.
Das Überraschende an diesen sich ergänzenden Darstellungen eines Übergangsalters ist die gänzlich abwesende Furcht vor der DDR. In Sieben Sommersprossen wird die Partei nur nebenbei erwähnt. War das ein ernsthafter Versuch, zu zeigen, wie das Leben hätte sein sollen und können? In einer aufschlussreichen Szene taucht ein Parteimitglied während einer Probe von Romeo und Julia im Ferienlager auf. Wird er die Aufführung verbieten? Nun, nein, denn er ist ja ein Kulturliebhaber. Im Kontext ergibt die Szene einen Sinn: Man tut so, als existiere keine Unterdrückung, und wenn sie sich dennoch zeigt, betont man deren wohlwollende Seite. Eine schöne Lüge, die in die damalige Zeit passt.
In Sonnenallee ist die Partei allgegenwärtig. Ihre Mitglieder fragen nach Papieren, gehen mit der Schwester aus, lösen nächtliche Tanzveranstaltungen auf und kaufen verbotene Platten für eigene illegale Partys. Aber sie geraten zur Witzfigur. Jeder, der Autorität hat, ist blöd, korrupt oder beides. Während man bei Sieben Sommersprossen den Eindruck hat, die Partei würde absichtlich ausgeblendet oder als unsichtbare Kraft abgetan, spielt Sonnenallee deren Bedrohung herunter.
Wenn die Gegenwart ungewiss oder unerträglich ist, greift das Kino zur Realitätsflucht. Wenn die Gegenwart sicher und unbeschwert ist, kehrt das Kino zu schwierigen Fragen und der Ergründung des Leids zurück. Als die Mauer hoch war, wollten die Filmemacher ihr Publikum womöglich in Sicherheit und wohliger Wärme wiegen. Sieben Sommersprossen ist heiter und nostalgisch, eine Geschichte über das Erwachsenwerden, die sich messerscharf auf den Traum junger Liebender konzentriert. Das ist natürlich schön und unter den damaligen Umständen (verständlicherweise) gefahrlos. Was nachvollziehbar ist.Jenseits der großspurigen Leichtigkeit mag Sonnenallee unbequeme Fragen stellen, und zwar, weil der Film die Möglichkeit dazu hat. Er kann die Dummheit und Niedertracht der Partei aufzeigen, weil das ironischerweise nun völlig risikofrei ist, 1999. Kann man einen Film auf einer Straße drehen, die von Ost nach West führte, ohne die Partei dabei einzubeziehen? Sonnenallee kann es sich leisten, die Lebensfreude des Protagonisten und seiner Freunde in der DDR zu zeigen, die jung, albern und verliebt waren. Nostalgie ist eine starke Droge und die Freiheit, darin zu schwelgen, ebenso.
Es gibt einen Unterschied zwischen der tatsächlichen Lebensrealität von Jugendlichen in der DDR und deren Darstellung in den beiden Filmen. Der Unterschied besteht in Zeit, Ort und auch der Zeitspanne zwischen den Erscheinungsdaten der Filme. Doch trotz dieses Unterschieds können wir wohl davon ausgehen, dass sich die Jugend selbst nicht ändert.
Jugendliche sind belastbar, ihre Sorgen und Vorlieben umfassen das ganze Spektrum von winzig klein bis riesengroß. Ja, sie machen sich Gedanken über die Welt und den Druck, unter dem sie stehen, doch sie begreifen gleichzeitig, dass die kleinen Belange irgendwie am wichtigsten sind. Sie suchen nach Unterhaltung, sie wollen sich verlieben, sie wollen an der Gegenwart festhalten und wünschen sich eine bessere Welt, sei es in der Gegenwart oder Zukunft. Gewiss hat sich der Mauerfall auf ihr Leben ausgewirkt, und dennoch ist er in gewisser Hinsicht nicht von Bedeutung. Jugendliche gehen ihren Weg, so oder so.
autor
Michael B. Tager ist Autor und Lektor und lebt in Baltimore, Maryland, USA. Er studierte Kreatives Schreiben und Psychologie mit Film und Theater im Nebenfach. Er schreibt Musik-, Literatur-, Film-, und TV-Rezensionen. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Medien publiziert. Mehr unter michaelbtager.com.