Lateinamerikanische Gegenwartskunst
Darstellungen einer verwobenen Welt
Viele lateinamerikanische Künstlerinnen und Künstler greifen Aspekte aus dem Erbe Alexander von Humboldts auf und schlagen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Ästhetik. In ihren Werken entdecken sie miteinander verbundene Naturkräfte und gehen auf hochaktuelle Reflexionen ein. Bilder der Natur in der zeitgenössischen Kunst Lateinamerikas.
Von Daniel Castellanos Reyes
Nur wenige Menschen haben die Gelegenheit, über den Zeitgeist ihrer Epoche hinauszublicken, wie es Alexander von Humboldt tat. Durch seine Texte und Zeichnungen hat er uns die lebendige und verwobene Welt, in der wir leben, nahegebracht und sie mit den Mitteln seiner transdisziplinären wissenschaftlichen Praxis sowie der Kunst beschrieben.
Die nachfolgend vorgestellten lateinamerikanischen Künstlerinnen und Künstler greifen – mal offensichtlich, mal unmerklich – Aspekte aus dem Erbe Humboldts auf, wie zum Beispiel sein Interesse, zwischen dem wissenschaftlichen und ästhetischen Bild der Natur eine Brücke zu schlagen, oder den Wunsch, das Handeln zugunsten der Ökosysteme zu beeinflussen und nicht zugunsten einer globalen Konsumwirtschaft. Die Werke dieser Künstlerinnen und Künstler bilden an sich lebende Organismen: Formen, die Welt wahrzunehmen und miteinander verbundene Naturkräfte zu entdecken, die wiederum mit politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, wissenschaftstheoretischen und ökologischen Überlegungen zusammenhängen.
Der kolumbianische Künstler Carlos Motta stellt in seiner Installation Petrificado („Versteinert“, 2016) historische Bilder von Konquistadoren, die auf Landschaften und indigene Gemeinschaften treffen, reinen Landschaftsaufnahmen der Wüsten von New Mexico und Arizona gegenüber. Das museologische Ensemble enthüllt die Komplizenschaft der Landschaft bei jenen gewaltsamen Begegnungen und überlässt es zugleich dem Betrachter, sich Situationen und Handlungen dazu zu denken. Petrificado beweist, dass die Umstände der Herrschaft über das Territorium mit historischen Repräsentationsregimen einhergingen, die versuchten, die Erinnerung an die Orte und unterdrückten Völker auszulöschen.
Die brasilianische Künstlerin Maria Thereza Alves dokumentiert in ihrem Buch Recipes for Survival („Überlebensrezepte“, 1983/2018) anhand von Fotografien und Aufzeichnungen die Arbeit einiger „aktiver Akteure“ Brasiliens, Menschen, die in die Geschichte ihres Landes verstrickt sind und Erzählprozesse generieren, in denen Natur und Staat miteinander verbunden sind. Das Fotografieren wird dabei durch die von der Kamera geschaffene Distanz zum Diskussionsgegenstand. Alves’ Rezepte halten uns dazu an, unsere Umgebung aktiv zu beobachten, um Landschaften, Geschichten und Erinnerungen (mit) zu erschaffen, die uns so, wie wir sind, nachbilden.
Die kolumbianische Künstlerin Carolina Caycedo hat mit Gemeinden an Flüssen gearbeitet, die durch Wasserkraftwerke bedroht sind. Ihre Werke stellen natürliche, soziale und körperliche Landschaften dar. Ihr laufendes Projekt, die Werkserie Be Dammed („Sei verdammt“), dokumentiert und untersucht, wie sich das Vorgehen von Unternehmen und Staaten auf Gemeinwesen und Wasserläufe auswirkt. Mit Luft- und Satellitenaufnahmen sowie geochoreographischen Interventionen weckt Caycedo Widerstand gegen diese Veränderungen, die zeigen, wie sich die Kontrolle über das Wasser zu einer Kolonisierung von Menschen- und Wissensströmen ausweitet.
Minerva Cuevas aus Mexiko tritt als Zeugin der ökologischen Auswirkungen auf, die die Explosion einer Ölplattform auf die Halbinsel Yucatán verursachte. Seit 2006 untersucht sie in ihrer Werkserie Hidrocarburos („Kohlenwasserstoffe“) die Ökosysteme, die von den Raffinerieanlagen betroffen sind. Cuevas sammelte vor Ort Gegenstände und Bilder ein und bediente sich dann einer musealen Sprache, um die Zeitungsausschnitte, Steine und weiteren mit Teer bedeckten Dinge zu einer ironischen Collage zusammenzufügen. Sie verändert dadurch den offiziellen Charakter museologischen Vorgehens und drängt alle beteiligten Akteure in der korporativen Verwaltung natürlicher Ressourcen zum Handeln.
Eine weitere Zeugin von Landschaftsveränderungen ist die Kolumbianerin Natalia Castañeda Arbeláez. Aus dem Abguss wissenschaftlicher und materieller Daten setzt sie Topographien zusammen, die sich in Gemälde verwandeln. Ihre Landschaften sind Orte, die zum Schweigen gebracht wurden, oder Naturruinen, an denen die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat. Ihre ästhetische Suche beginnt Castañeda mit Expeditionen ins Feld. Auf dem Gemälde Vertientes („Abhänge“, 2019), ihrem neuesten Werk, glitzert in fragmentarischer Ansicht der abschmelzende Gletschervulkan Nevado de Santa Isabel. Ziehen wir einen Vergleich zu Alexander von Humboldts Naturgemälde, so verweist Vertientes auf den Verlust unserer Verbundenheit mit dem Kosmos.
Wenn der Kosmos Schönheit und Ordnung darstellt, dann will Maya Watanebe mit ihrem Werk Escenarios („Schauplätze“, 2015), das in Videoinstallationen Naturlandschaften in bewegten Bildern und als theatralische Inszenierungen zeigt, eine Kosmos-Serie schaffen. Die visuelle Bedeutungseinheit von Escenarios wird durch die Technik des Splitscreens ständig aufgebrochen, das heißt, auf jeder Bühne werden ins „Gesamtbild“ ständig biografische Reflexionen oder Bilder eingeblendet, die aus politischen oder historischen Umständen oder zivilen Unruhen hervorgehen und Perus Erinnern und Vergessen ausmachen.
Der venezolanische Künstler Miguel Braceli performte mit 70 Architekturstudierenden der TEC-Universität von Costa Rica Interventionen rund um den Vulkan Irazú, der diesem Werk den Namen gab. Braceli setzt auf eine Dynamik des kollektiven Schaffens, der Teilhabe und Forschung, die das Menschliche mit Naturkräften wie Wind, Feuer, Wasser und Erde verbindet. Bei der Koordination dieses Kollektivs im Werk lässt er poetische und visuelle Spannungen entstehen. Im Ergebnis bringt dieser performative Dialog im Raum die Kunst zur Vereinigung mit der Umgebung.
Der Dialog Mensch-Natur setzt sich fort in der Videokunst des Chilenen Gianfranco Foschino. Sein Werk beruht auf der zeitlich begrenzten und idealen Betrachtung, bei der sich Blickführung und Darstellung in einer Endlosschleife wiederholen und auf unveränderliche Landschaften und ursprüngliche Ökosysteme fallen. La edad de la tierra („Das Alter der Erde“, 2016) betrachtet Landschaften und Tiertexturen der Galapagos-Inseln und spielt dabei mit unseren vorgefertigten Vorstellungen von der Natur. Foschino bestätigt mit seinem Herangehen, wie besessen wir sind von der Zeit und unserer zerbrechlichen Existenz auf dem Planeten.
Der argentinische Künstler Adrián Villar Rojas schließlich verändert radikal die Orte, an denen sein Werk in fünf Sätzen, El teatro de la desaparición („Theater des Verschwindens“, 2017) ausgestellt wird. Seine Skulpturen sind riesig und visuell. Durch die vielfachen Veränderungen vor Ort und die Durchsicht archäologischer und naturhistorischer Sammlungen kann Villar eine unvorhersagbare Raum-Zeit-Sprache anwenden, die uns mit post-menschlichen Szenarien konfrontiert. Die verschiedenen Versionen des Teatro lassen uns in surreale Stadien der Natur und Kultur eintauchen, in eine Abfolge künstlicher Museumsinstallationen, die auf ein apokalyptisches Ende des Anthropozäns anspielen.