Renaturierung in New York
Austern als Ökosystem-Ingenieure
Die Häfen von Großstädten sind nicht gerade als Quelle von Biodiversität bekannt. Zumindest in New York war das nicht immer so. Das Billion Oyster Project will aus dem Hafen der Metropole wieder ein funktionierendes Ökosystem machen – mit der Hilfe von Austern.
Von Natascha Holstein
Eine Grundschülerin, die kaum je außerhalb ihrer riesigen Heimatstadt war, hält ungläubig zum ersten Mal eine Krabbe in den Händen. Sie hängt außen an einer Auster, im Wasser darunter sieht das Mädchen bunte Fische, die zwischen den Muscheln umherschwimmen. Und das nicht an einem Strand, sondern auf Governor’s Island, einer kleinen Insel mitten im New Yorker Hafen, im Hintergrund erstreckt sich die beeindruckende Skyline. An solche Szenen erinnert sich Helene Hetrick vom Billion Oyster Project (BOP) gerne. „So viele Leute denken noch immer, der Hafen in New York ist dreckig und leblos, dass, sobald ihnen ein Seepferdchen entgegenkommt, sich ihre Perspektive auf ihre Umgebung komplett verändert“, sagt Hetrick im Videointerview.
Das ist nur einer der Effekte, den das Billion Oyster Project erreichen will. Bis 2035 sollen eine Milliarde Austern im New Yorker Hafen angesiedelt werden. Eine Zahl die unvorstellbar groß scheint, doch galt die US-amerikanische Metropole früher als Austern-Welthauptstadt, mit über 800 Quadratkilometern Riffen. Im beginnenden 20. Jahrhundert schrumpfte die Population durch den Verzehr und die zunehmende Industrialisierung jedoch rapide.
Warum Austern?
2014 haben Pete Malinowski und Murray Fisher das BOP initiiert. Malinowski selbst ist auf einer Austernfarm groß geworden. Mit einem leichten Lächeln erinnert er sich im Interview daran, dass sich das Hinausfahren mit dem Boot als Kind angefühlt habe, wie im eigenen Vorgarten unterwegs zu sein. Fisher gründete die „The Urban Assembly New York Harbor School“ mit, eine High School auf Governor’s Island, an der die Schüler*innen neben den üblichen Fächern insbesondere maritimes Fachwissen lernen und aus der das BOP entstanden ist.Teil der New Yorker Kultur
Essen sollte man die Muscheln lieber nicht. „Durch die Filterung ist klar: Sie bringen das, was im Wasser ist, in ihre Körper“, gibt Hetrick zu bedenken. Werden die Gewässer verschmutzt, sind die Austern ungenießbar und können sogar krank machen. Und dennoch ist das Billion Oyster Project davon abhängig, dass Austern gegessen werden – nur nicht die aus dem Hafen selbst. Das Projekt sammelt die übrig gebliebenen Schalen aus New Yorker Restaurants, damit die freischwimmenden Larven ein passendes Substrat zum Niederlassen finden, und ihre eigene Schale drum herum bilden können. Es scheint ein Widerspruch zu sein, dass das BOP Gutscheine für Austernrestaurants verschenkt und gleichzeitig für jede Auster im New Yorker Hafen kämpft. „Natürlich klingt das verrückt, aber die meisten dieser Austern werden auf Farmen speziell zum Verzehr angebaut“, erklärt Hetrick. Ohne die Schalen aus den Restaurants hätten sie wohl nicht bereits so viele Austern ansiedeln können. „Austern sind immer noch ein Teil der New Yorker Kultur. So profitieren wir immerhin davon“.Im Hinblick auf stetig wachsende Städte stellt sich die Frage, ob dieser Lösungsansatz zu speziell ist, um ihn andernorts anzuwenden. Austern benötigen einen bestimmten Salzgehalt im Wasser. „Ich denke aber, dass in jeder Küstenstadt naturnahe Arten erneuert werden könnten, die verloren gegangen sind, als wir diese Städte hochgezogen haben“, sagt Hetrick.
Die Natur muss irgendwann übernehmen
Der Nachhaltigkeitsaspekt ist auch nur einer der Schwerpunkte des BOP. Durch die Kooperation mit der New York Harbor School und anderen Schulen möchte das Team Bewusstsein schaffen. „Die beste Erfahrung ist für mich, zu sehen, wie die Schüler*innen den Hafen wieder ein Stück weit zurückgewinnen“, sagt Gründer Malinowski.Um ihr Ziel von einer Milliarde zu erreichen, muss das Projekt noch an Geschwindigkeit zulegen: Im letzten Jahr kamen 17 Millionen Austern hinzu, insgesamt sind es 47 Millionen. Viel Zeit geht für das Beantragen von Genehmigungen und der Finanzierung durch Sponsor*innen drauf. Auch die Austern selbst müssen ihren Teil beitragen – zum Beispiel durch Rekrutierung. Denn Hetrick ist sich sicher: „Der Prozess kann als menschengemachter beginnen, aber die Natur muss ab einem bestimmten Punkt übernehmen, damit er wirklich gedeiht.“
Wie kann der Städteboom zum Ökowunder werden?
Überall auf der Welt wachsen Städte nahezu unkontrolliert. Bis 2050 könnte sich die Stadtbevölkerung weltweit fast verdoppeln. Hinzu kommen Verkehrschaos, energieintensive Baumaterialien wie Stahl und Beton, die Verdrängung von Ökosystemen. Dabei haben Städte eigentlich das Potential, besonders nachhaltig zu sein, da sich die Bewohner*innen Infrastruktur auf engem Raum teilen, was wiederum Ressourcen und Energie spart. In den Reportagen zum Thema Städteboom schauen verschiedene Autor*innen sich drei Lösungsansätze an und fragen, wie eine nachhaltige Urbanisierung möglich ist.