Studie zur Leseförderung
„Die Bibliothek muss zur vertrauten Umgebung werden“

Bibliotheken leisten einen wichtigen Beitrag zur Leseförderung.
Bibliotheken leisten einen wichtigen Beitrag zur Leseförderung. | Foto (Ausschnitt): © wip-studio – Fotolia.com

Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg hat eine Studie zur Leseförderung in Bibliotheken durchgeführt. Ein Gespräch mit Ute Krauß-Leichert über Lesemotivation und Leseleistung mit Ute Krauß-Leichert, Bibliothekarin und Professorin für Dienstleistungen im Informationssektor.

Von Patrick Wildermann

Frau Krauß-Leichert, welche Formen der Leseförderung werden gegenwärtig in Bibliotheken angeboten?

Leseförderung gehört schon lange zu den wichtigsten Aufgaben öffentlicher Bibliotheken, wobei das Thema durch den PISA-Schock von 2000 und die folgende Debatte verstärkt in den Fokus gerückt ist. Seitdem können Bibliotheken öffentlichkeitswirksamer damit werben, dass sie Leseförderung anbieten. Zu den klassischen Formaten zählen Bilderbuchkino, Ferienleseclubs, Buch-Rallys oder Autorenlesungen. Neuere Ansätze sind zum Beispiel das aus Japan stammende „Kamishibai“, ein bildgestütztes Vorlesen. Dazu wird eine Bühne aus Pappe aufgebaut, in die man Bilder aus den gelesenen Büchern schiebt – ein sehr schönes Angebot gerade für Flüchtlingskinder.

Welche Rolle spielen digitale Angebote bei der Leseförderung?

Digitale Angebote werden immer wichtiger. Ein Beispiel sind hybride Bilderbücher, die nach dem Prinzip der Augmented Reality funktionieren. Die Kinder können dabei das klassische Bilderbuch mit Text über eine kostenlose App noch einmal anders erleben. Wenn es sich um ein Buch über Vögel handelt, sind beispielsweise die entsprechenden Vogelstimmen zu den Abbildungen zu hören. Überhaupt wird viel mit Apps gearbeitet, auch schon bei Kindern im Kita- oder Grundschulalter. Für ältere Kinder gibt es Angebote, per App eigene E-Books zu erstellen, oder Social-Reading-Angebote, den online geführten Austausch über Texte. Auch solche multimedialen Formen fallen in den Bereich der Leseförderung.

Stolperwörter und Leselust

Sie haben an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg die deutschlandweit einzige Langzeitstudie zur Leseförderung durchgeführt. Woran lässt sich erkennen, ob die Leseförderung erfolgreich ist?

Wir mussten zunächst klären, was unter Lesekompetenz verstanden werden soll. Wir haben einen Ansatz gewählt, der aus der Lesesozialisations-Theorie stammt. Dabei wird neben der Leseleistung auch die Lesegewohnheit und die Lesemotivation untersucht. Wir haben uns dann die zweiten Klassen einer Grundschule mit hohem Migrationsanteil im Bielefelder Stadtteil Brackwede zur Evaluation ausgesucht, die wir bis zur vierten Klasse begleiten haben. Die Schülerinnen und Schüler haben anfangs zweimal im Monat eine Veranstaltung zur Leseförderung in der Stadtteilbibliothek besucht, später alle zwei Monate. Regelmäßig wurde in der Schule dazu ein Stolperwörtertest durchgeführt, bei dem es darum geht, innerhalb eines Satzes ein unpassendes Wort zu identifizieren. Aber die Leseleistung war für uns nicht der entscheidende Indikator, sondern die Lesemotivation und Lesegewohnheit.

Wie lassen sich Lesemotivation und -gewohnheit messen?

Ein möglicher Indikator ist zum Beispiel ein eigener Bibliotheksausweis. Zu Beginn haben sich 50 Prozent der Schüler mit einem eigenen Ausweis Bücher ausliehen, am Ende der Studie 80 Prozent. Das spricht auch für die Bindung an die Bibliothek. In Familien, die es sich leisten können, werden die meisten Bücher gekauft. Viele ärmere Familien – vor allem aus bildungsfernen Schichten – sind aber auf die kostenlose Ausleihe angewiesen. Noch ein interessanter Wert: Die Zahl der Kinder, die in unseren Befragungen angegeben haben, gerne zu lesen, ist von anfangs 14 auf über 70 Prozent gestiegen.

Förderung schon im Krabbelalter

Und das ist ausschließlich der Leseförderung in der Bibliothek zu verdanken?

Nein. Die Ergebnisse nur einem Faktor zuzuordnen, wäre nicht beweisbar. Dazu sind die Kinder heutzutage zu vielen medialen Einflüssen ausgesetzt. Genauso wenig kann man eindeutig belegen, welche Form der Leseförderung am wirksamsten ist. Doch die Bibliotheken können die Kinder im Umgang mit Büchern und Medien schulen, ihnen den Spaß daran vermitteln und sie dabei unterstützen, das Lesen zu etwas Selbstverständlichem zu machen.

Welche Erkenntnisse für die öffentlichen Bibliotheken folgen aus Ihren Untersuchungen?

Früh mit der Leseförderung zu beginnen! Also nicht erst mit Kita-Kindern, sondern schon im Krabbelalter. Es gibt sogenannte Vorläuferfertigkeiten, die eine wichtige Grundlage für den Erwerb der Schriftsprache bilden. Solche Fertigkeiten können Bibliotheken fördern, etwa durch Angebote zur frühkindlichen Leseförderung wie Reimen, Singen, Fingerspiele, Bilderbücher anschauen und Vorlesen. Das machen viele auch bereits. Aber dazu braucht man geschultes Personal. Außerdem ist es wichtig, dass die Veranstaltungen zur Leseförderung regelmäßig angeboten werden, nicht nur einmal pro Schuljahr.

Dazu müssen natürlich auch entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.

Vor allem ist es wichtig, die Leseförderung dezentral anzubieten. Vielerorts gibt es die schicke Zentralbibliothek, die gut ausgestattet ist. Aber in den Stadtteilbibliotheken sieht es oft anders aus. Dort wären die Kinder aus bildungsfernen Schichten zu erreichen, wozu jedoch leider noch viel zu oft die entsprechenden Angebote fehlen. Die Bibliothek muss zur vertrauten Umgebung werden.
 

Prof. Dr. Ute Krauß-Leichert
Prof. Dr. Ute Krauß-Leichert | Foto (Ausschnitt): © HAW/Paula Markert
Ute Krauß-Leichert ist Bibliothekarin, Soziologin, Sozialpsychologin und Professorin für Dienstleistungen im Informationssektor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg. Sie ist verantwortlich für die Langzeitstudie Leseförderung und Wirkungsforschung (LeWi), die von 2009 bis 2014 in Kooperation mit der Stadtbibliothek Bielefeld durchgeführt wurde.

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