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Berlinale-Bilanz 2018
Debatten, Botschaften und Jury-Überraschungen

Gewagter Gewinner: Adina Pintilie mit dem Goldenen Bären für den Besten Film:" Touch Me Not"
Gewagter Gewinner: Adina Pintilie mit dem Goldenen Bären für den Besten Film:" Touch Me Not" | Foto (Ausschnitt): © Richard Hübner, Berlinale 2018

Auf dieser Berlinale wurde viel diskutiert: vorher, währenddessen, nachher. Die Entscheidungen der Jury sind wohl auch als Botschaft zu verstehen.

Langweilig war diese Berlinale nicht. Das lag nicht nur an den Filmbeiträgen. Selten wurde so kontrovers diskutiert – und zwar bereits vor Festivalstart. Berlinale-Chef Dieter Kosslick stand in der Kritik wegen Profillosigkeit des Wettbewerbs. Dresscode- und Sexismusfragen setzten früh Zeichen und verlagerten die #MeToo-Diskussionen auf den roten Teppich.

„Black is the New Red! Fordert jetzt mit uns den schwarzen Teppich für die Berlinale!“, hieß es in der Onlinepetition #blackcarpetberlinale, initiiert von der Schauspielerin Claudia Eisinger.


Es hat ein bisschen gedauert, bis der Wettbewerb in Schwung kam, erwies sich dann aber als experimentierfreudiger Jahrgang. Großartiges Arthousekino in Schwarzweiß zeigte Emily Atefs Biopic 3 Tage in Quiberon mit Marie Bäumer als Romy Schneider. Gegenwartsstoffe wie die iranische Groteske Khook (Schwein) von Mani Haghighi oder die schwedischen Gesellschaftssatire The Real Estate bewiesen stilistisch ausgesprochene Spielfreude. Philipp Grönings dreistündiges Geschwisterdrama Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot, Christian Petzolds Transit, eine Adaption des gleichnamigen Exil-Romans von Anna Seghers, oder Lav Diaz' Historien-Musical ng Panahon ng Halimaw (In Zeiten des Teufels) sind weitere Beispiele für die ästhetische und thematische Bandbreite des Jahrgangs – auch wenn sie bei der Preisvergabe leer ausgingen. Es scheint, als versuche die Berlinale, ihre Perspektiven auszutarieren und das eigene Profil im Vergleich zu Cannes und Venedig zu schärfen.
 

Schamgrenzen und Fluchtreflexe 

So kontrovers und vielfältig die Filme auch waren, die größte Überraschung brachte die Bären-Verleihung. Wer hatte wohl Adina Pentilies Spielfilmdebüt Touch Me Not als Favorit für den Hauptpreis auf dem Zettel – ein Film, der im Publikum Fluchtreflexe auslöste? Viele verließen das Kino bei den Vorführungen, es wurde gebuht, aber auch begeistert applaudiert.


In expliziten Szenen erforscht die junge rumänische Regisseurin die Grenzen von Körperlichkeit und Intimität. Wir beobachten behinderte und nicht behinderte Menschen, die in einem Workshop lernen sollen, sich zu berühren. Pentilies Bilder überschreiten Schamgrenzen auf eine Weise, die schwer auszuhalten ist. Doch bei aller Zwiespältigkeit, die man dem Film entgegenbringen mag: Er schafft es, unsere Sichtweisen und Denkmuster gegen den Strich zu bürsten. Gerade solch sperrigen Filmen kann das Festival Öffentlichkeit, manchmal auch eine Kinoauswertung verschaffen.

ungewöhnliches gegenwartskino

Ähnlich nachhaltig, wenn auch weniger drastisch ist Twarz (auf Deutsch: Gesicht, Visage), der zu Recht den Großen Preis der Jury erhielt. Ein junger Heavy-Metal-Fan wird nach einer Gesichtstransplantation von der Dorfgemeinschaft nicht mehr akzeptiert. Bildgewaltig, mit schwarzem Humor und großer Sympathie für ihren Protagonisten erzählt Regisseurin Małgorzata Szumowska eine Geschichte im Polen von heute, stellt Fragen nach Identität und Integration.


Einen anderen, stillen Zugang zur Gegenwart finden zwei Filme, die mit dem Darstellerpreis geehrt wurden. In Las herederas (Die Erbinnen), dem ersten Wettbewerbsbeitrag aus Paraguay in der Berlinale-Historie, beschreibt Marcelo Martinessi in der Emanzipationsgeschichte einer älteren Frau den gesellschaftlichen Wandel in seiner Heimat. Für ihr behutsames Spiel bekam die Schauspielerin Ana Brun einen Silbernen Bären. Ihr junger französischer Kollege Anthony Bajon wurde für seine Rolle des Thomas in La Prière ausgezeichnet. Mit großer Eindringlichkeit verkörpert er in Cédric Kahns eher mittelmäßigem Jugenddrama einen jungen Mann auf der Suche nach neuen Perspektiven.

Neue Perspektive, andere Wege

Die Jury wolle nicht nur würdigen, „was das Kino kann“, sondern auch, wo es sich noch hinbewegen könne, sagte Jury-Präsident Tom Tykwer bei der Preisverleihung am 24. Februar. So sind wohl die Entscheidungen auch als Botschaft zu verstehen. Warum sonst wurde ausgerechnet einem Animationsfilm, nämlich Wes Andersons Isle of Dogs, der Regie-Preis zugesprochen? Von Schauspielführung kann bei einer Stop-Motion-Tierfabel verständlicherweise nicht die Rede sein. Andererseits ist Isle of Dogs mit seinen liebevoll gestalteten Figuren und der entschleunigten Narration eine Rarität im Mainstream-Animationskino.


Vier von acht Bären gingen in diesem Jahr an Frauen. Zum sechsten Mal in der fast 70jährigen Berlinale-Geschichte konnte eine Regisseurin den Hauptpreis für den Besten Film mit nach Hause nehmen. In einem Festivaljahrgang, den Diskussionen über Sexismus, Missbrauch und Geschlechterrollen begleiteten, ist auch dies durchaus als positives Zeichen zu werten.

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