Selim Özdoğan hat den Eindruck, dass der Literaturbetrieb sich mit seinen Stipendien manchmal für Vito Corleone hält und Angebote macht, die man nicht ablehnen kann.
Selim, bewirb dich doch, Exposé, Textprobe, du weißt, wie es läuft, wie die Juroren sind, der Betrieb, das Spiel.Bewirb dich, dann kommst du hierher, kulturell nicht viel los, ja, aber landschaftlich ist es schön. Mit dem Bus bist du in 24 Minuten in der Stadt.
Wozu brauchst du denn immer Freunde? Ja, deine Frau, deine Crew, deine Gang, deine Clique, dein Yogastudio, ich versteh dich, aber das lenkt doch nur ab.
Hier hast du Ruhe zum Arbeiten, ganz ehrlich, ein Schriftsteller braucht doch nur Einsamkeit. Und einen Schreibtisch. Also Schreibtisch haben wir hier keinen, aber diesen runden Esstisch neben der Küchenzeile.
Nein, für zwei Leute ist es zu klein, aber das sind fast 31 qm, für deine Yogamatte ist allemal Platz.
Ein Blogbeitrag die Woche. Oder alle vierzehn Tage, darüber können wir reden. Eine Lesung im Rathaus. Eine in der Schule. Wenn wir auch noch einen Text haben könnten, der über einen Blogbeitrag hinausgeht. Mit regionalem Bezug. Und Schröder, das ist einer unserer Sponsoren, geht mit den Autorinnen gerne essen. Sternerestaurant, wird dir gefallen. Und der Bürgermeister lädt zur Soirée. Alle sind immer ganz angetan von den Stipendiaten.
Die Wohnung ist tagsüber ein wenig laut, ja, aber die meisten arbeiten ja ohnehin nachts, nicht wahr? Am Ende brauchen wir einen Abschlussbericht. Nichts Ausuferndes, drei, vier Seiten, nur für interne Zwecke.
1050 Euro plus die Wohnung, die meisten anderen zahlen weniger. Nein, keine Extrahonorare für die Texte. Die Miete für deine Wohnung zu Hause? Kannst du ja untervermieten solange, airbnb, da machst du noch ein wenig Geld nebenbei. Deine Frau? Naja, dann hat die mal Abwechslung.
Deine Bewerbung muss hier fristgerecht eingehen, dann kann ich sicher was für dich tun, Selim, bewirb dich, sonst steht wieder nichts in deiner Vita.
„... sonst steht wieder nichts in deiner Vita!“
- Vorwort | Gefangen im Elfenbeinturm
- #1 Ondřej Hložek | Dort, wo der Fluss ins Graublau schwindet…
- #2 Cécil Joyce Röski | enfant terrible
- #3 Katharina Bendixen | Kein Tisch für sich allein
- #4 David Blum | Hofnarr in Residence
- #5 Slata Roschal | Sie waren wieder da
- #6 Selim Özdoğan | Sie denken, dazu kann man nicht nein sagen
- Nachwort | Dann bewerbt euch doch nicht! – Und was, wenn doch?
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Januar 2025