Bei ihrem achten Residenzstipendium fragt sich Slata Roschal, ob es mit der Schriftstellerkarriere denn wirklich bergauf geht und warum deutsche Residenzen sowjetischen Kommunalwohnungen ähneln.
Bis in die neunziger Jahre gehörten Parasiten zum Lebensalltag sowjetischer Bürger. Als Kind lebte ich mit meinen Eltern, wie so viele damals, in einer WG, die ebenfalls von Wanzen bewohnt wurde. Diese organisierten sich – so erzählte man es mir – in einer Art Kolonne, um zielgerichtet eine Wand empor zu kriechen und sich dann, von der Zimmerdecke aus, in mein Bett zu stürzen. Irgendwann kamen westliche Insektizide auf den Markt, etwa eine Bestseller-Kreide mit dem Namen Maschenʼka (Koseform von Mascha, Maria), mit der man Linien wie Pentagramme durch die Wohnung zog; liefen Insekten darüber, starben sie. Allerdings war ich noch klein, und auch die Schrecken der Asylunterkunft gingen an mir vorbei. In unseren Mietwohnungen danach, auch in meinem ersten Zimmer im studentischen Wohnheim blieb alles ruhig, mal gelangte eine übermütige Fliege herein, eine Wespe, aber nichts, was an früher erinnerte. Insgesamt acht Wohnungen, die ich nach und nach bezog, hatten höchstens Silberfischchen vorzuweisen, die sich von Staub ernährten und damit als Verbündete anzusehen waren.Jahre später, als ich fertig studiert, promoviert, mich sogar recht erfolgreich als Autor selbständig gemacht hatte, geschah es. Im Bad der Stipendiatenwohnung eines Schriftstellerhauses, ich hatte gerade geduscht, sah ich auf den Fliesen ein sich windendes, wohl fast ertrunkenes Insekt, wusste sofort, dass es kein mimikrierter Käfer, keine bayerische Waldschabe war. Vielleicht war es ein kulturelles Trauma, das hochstieg, aber als sich der Vorfall wiederholte, packte ich meine Sachen, floh zum Bahnhof und googelte im Zug am Handy alle Stellen bei Gogolʼ und Dostoevskij, in denen Kakerlaken eine literarische Funktion erfüllen. Kakerlaken, ausgerechnet dann, als ich dachte, es einigermaßen geschafft zu haben, den sozialen Aufstieg und so fort – ausgerechnet in einem der reichsten Länder Europas, in einer ihrer wohlhabendsten Städte und im Rahmen einer Auszeichnung meiner künstlerischen Arbeit.
„... sonst steht wieder nichts in deiner Vita!“
- Vorwort | Gefangen im Elfenbeinturm
- #1 Ondřej Hložek | Dort, wo der Fluss ins Graublau schwindet…
- #2 Cécil Joyce Röski | enfant terrible
- #3 Katharina Bendixen | Kein Tisch für sich allein
- #4 David Blum | Hofnarr in Residence
- #5 Slata Roschal | Sie waren wieder da
- #6 Selim Özdoğan | Sie denken, dazu kann man nicht nein sagen
- Nachwort | Dann bewerbt euch doch nicht! – Und was, wenn doch?
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Januar 2025