Unternehmen
Demokratie als Chance
Warum die Wirtschaft flache Hierarchien braucht – und trotzdem nicht auf klare Strukturen verzichten kann.
Das Leitbild der „flachen Hierarchien“ wird seit einigen Jahren in der deutschen Wirtschaft diskutiert. Nicht ohne Grund stehen viele Unternehmer hierarchischen Strukturen skeptisch gegenüber. So zum Beispiel Sabine Gilliar, systemische Beraterin vom Netzwerk Culture2Business: „Gerade in stark hierarchischen Unternehmen kann es zu Machtmissbrauch und zum Ausleben von Eitelkeiten kommen.“ Sie denke dabei an Vorstandscasinos und luxuriöse Dienstlimousinen. Für das Führungspersonal würden Regeln außer Kraft gesetzt, die für einfache Angestellte weiter gelten, das führe zu Unzufriedenheit und Konflikten. Nach Gilliar kann Hierarchie aber auch positive Effekte für ein Unternehmen haben: „Sie gibt Orientierung in komplexen Systemen.“ Denn nicht jeder Mitarbeiter sei in der Lage, eine Führungsaufgabe zu übernehmen. Dazu bedarf es intrinsischer Motivation ebenso wie Führungskompetenz. „Wollen und Können gehören zusammen“, so Gilliar. „Hierarchie schafft klare Rollen, Mitarbeiter erledigen die übertragenen Aufgaben, und die Führungskräfte sorgen für die Rahmenbedingungen.“ Für viele Menschen ein akzeptables Modell der Arbeitsteilung.
Autorität kommt von Führungsqualität
Viele jüngere Arbeitnehmer, etwa geboren nach 1980, sehen das anders. Sie möchten die Arbeitswelt mit neuen Ansätzen erobern. Zum Beispiel Yanik Frank, der an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Betriebswirtschaftslehre studiert. Ihn interessiert der Hintergrund von Entscheidungen: „Wichtig ist immer die Frage: Warum ist das so? Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir Abläufe im Unternehmen besser verstehen.“ Das habe nichts mit mangelndem Respekt vor Führungskräften zu tun. „Aber wir stellen Autoritäten schnell in Frage“, sagt seine Kommilitonin Nina Held. Vor allem dann, wenn sich Vorgesetzte auf ihre formale Autorität berufen, ohne im Alltag echte Führungsqualität zu beweisen.Das verstehen auch Führungskräfte wie der ehemalige Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger: „Unternehmen gehören zu den letzten Bereichen unserer Gesellschaft, wo Demokratie und Souveränität noch vor der Hauptverwaltung oder dem Werkstor Halt machen“. Führungsprozesse kluger Unternehmen seien zunehmend sehr viel flacher, horizontaler und temporärer. Gefragt seien nicht mehr autoritäre Leitfiguren, sondern Netzwerker. „Netzwerker akzeptieren Menschen in einer temporären Führungsrolle, solange sie in Netzwerken einen echten Beitrag liefern“, erläutert Sattelberger. So wandelt sich die Rolle des Chefs: Er moderiert heterogene Teams, die durch ihre Vielfalt an Produktivität gewinnen. Dabei bleibt zwar seine Führungsaufgabe bestehen, doch er nutzt sie zur Förderung kreativer Potenziale innerhalb einer Gruppe gleichberechtigter Mitarbeiter.
Direkte Kommunikation in digitalen Netzen
Den Austausch zwischen diesen Mitarbeitern organisiert ein Unternehmen mit flachen Hierarchien oft mit Hilfe von digitalen Netzen. Wie das geht, zeigt der globale IT-Dienstleister Atos, der das Programm „Zero E-Mail“ gestartet hat. Wenn das Unternehmen intern nach geeigneten Experten für ein Projekt suche, sei in der Regel Expertise statt Hierarchie gefragt, erklärt Atos-Pressesprecher Stefan Pieper. Deshalb will das Unternehmen den internen E-Mail-Verkehr abstellen und seine Experten direkt miteinander in Kontakt bringen. „Wir müssen Wissen immer stärker vernetzen. E-Mails aber fördern in der Tendenz hierarchische Strukturen.“ Zunächst würden alle übergeordneten Stellen per cc-Kopie verständigt, dann erst entschieden. Tatsächlich sind aber nicht alle Vorgesetzten inhaltlich mit einem Projekt vertraut. Vielmehr wird ihre Autorität damit gestärkt, dass sie über alle Schritte ihrer Mitarbeiter informiert werden. Dem setzt Atos sein Enterprise Social Network entgegen – ein „Facebook für Unternehmen“, wie es Pieper beschreibt. Hier können Projektteams ihre Kontakte organisieren, Communitys einrichten und gezielt Informationen verbreiten. Abhängig von den jeweiligen Zugriffsrechten zwar, aber im Sinne einer direkten und schnelleren Kommunikation, die Entscheidungsprozesse beschleunigt und die Eigenverantwortung der Mitarbeiter stärkt.Neue Freiheit mit Schattenseiten
„Flache Hierarchien“, „Partizipation“ und „wertschätzender Umgang“ – manchmal scheitern Mitarbeiter auch an der Aufgabe, die neu gewonnene Freiheit für sich zu nutzen. Ganze Konzerne versagen, wenn es um die Umsetzung dieser Leitbilder geht. Ein ehemaliger Manager erinnert sich: „Den Alltag im Konzern bestimmte eine gelebte Doppelmoral.“ Die eine Seite sah gut aus: Alle Türen sollten offen stehen, akademische Titel fielen weg, und für die Mitarbeiter sollte es „keine hierarchischen Kommunikationswege“ geben. „In den Schulungen fürs Management wurde gefordert: Tritt Deine Leute nicht, gehe wertschätzend auf sie ein“, so der Ex-Manager. Die andere Seite sah weniger gut aus: „Der Arbeitsalltag war geprägt durch Mobbing, Führungskräfte wurden aus dem Unternehmen geschleudert“. Sein Resümee: „Angst, Macht und Neid“ hätten die Unternehmenskultur untergraben; „diese emotionalen Faktoren lassen sich auch durch flache Hierarchien nicht ausschalten.“Die neue Freiheit hat Schattenseiten, die auch der Soziologe Günter Voß beim Namen nennt. Er spricht von einer „Entgrenzung der Arbeitswelt“. Die geforderte Selbstorganisation kann nach Voß zur Überforderung der Arbeitnehmer führen, ebenso flache Hierarchien mit höherer Eigenverantwortung. Durch die gewonnene Selbstbestimmung liegt es an jedem Arbeitnehmer selbst, wie viel er zu leisten bereit ist. Die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeitszeit verschwimmen. Die scheinbare Freiheit werde so zur Falle, stellt Voß fest.