Nachhaltiges Bauen
Das karbonisierte Europa
Europa baut auf Stahl. Obwohl das historisch nachvollziehbare Gründe hatte, wird es heute zum Problem: Denn beim Bau sind die europäischen Länder abhängig von CO2-intensiven Baustoffen. In seinem Buch „Building Carbon Europe“ geht Autor Dennis Pohl der Frage nach, wie Stahl zu einer wichtigen Bausubstanz wurde, weshalb flexible Systembauten sich nicht durchgesetzt haben – und wie innovative Architektur das Bauwesen verändern könnte.
Von Maike Rademaker
Herr Pohl, Sie schreiben, dass viele unserer heutigen Probleme im Energiebereich auf historischen Entscheidungen der Europäischen Union (EU) basieren, und teils sogar auf Entscheidungen ihrer Vorgängerinstitutionen wie der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Wie kommen Sie darauf?
Die EGKS hat in den 1960er-Jahren in der Architektur die Möglichkeit gesehen, dem hohen Wohnungsbedarf von Arbeitenden zu begegnen. Gleichzeitig haben große Kohlezechen und Stahlproduzenten Architekturprogramme gefördert, die den Wohnungsbau unterstützt haben. Denn vor allem Stahl war ein Baustoff der Stunde. Aus mehreren Gründen: Energie war damals keine endliche Größe, mit dem Kohleabbau schienen Ressourcen kein Problem zu sein. Und Stahl im Bau war willkommen, weil die hohe Stahlproduktion aus dem Zweiten Weltkrieg nahtlos umfunktioniert werden konnte – für friedliche Zwecke. Das Narrativ der EGKS war auch, ein europäisches Friedensprojekt zu sein.
Wer hat den Anstoß zu dieser Strategie gegeben?
Es wurden Tagungen von der Europäischen Kommission organisiert und europaweit Architekt*innen, Ingenieur*innen, Stahlproduzenten und andere eingeladen, um darüber zu verhandeln, welche Rolle die Architektur in der Stahlproduktion spielen kann. Namhafte Architekten haben dazu Visionen entworfen, die dann auch umgesetzt wurden – etwa in Wohnsiedlungen für Arbeiter*innen. Sie dienten als Testfeld, was man mit Stahl alles machen kann. Das Ziel war, die Kohle- und Stahlproduktion so kontrollierbar zu machen, dass kein Mitgliedstaat der damaligen EGKS in der Lage sein würde, so ein enormes Waffenmonopol anzusammeln, wie es in Deutschland im Dritten Reich der Fall war. Das galt neben Deutschland auch für Italien, den beiden zentralen Stahlproduzenten. Gleichzeitig wurde die Stahlproduktion europaweit normiert, sodass Stahl grenzübergreifend gehandelt und verbaut werden konnte. Die in der Zeit entstandenen Normen haben teilweise bis heute noch Bestand.
Sie nennen die so entstandenen Ideen durchaus auch innovativ, trotz des hohen Energieverbrauchs. Warum?
Weil sie gezeigt haben, dass Europa ein industrielles Bauen möglich machen konnte, das flexibel ist. In den Wohnungen von damals, wie der EGKS-Versuchsstation des Architekten Jochen Brandi in Berlin von 1976, kann man das noch sehen. Da waren Wände verschiebbar, so dass Bewohner*innen die Räume an ihre jeweilige Lebenslage anpassen können sollten. Das war ausgesprochen innovativ. Auf den Wettbewerb dazu haben sich damals 3000 Architekt*innen beworben. Aber: Mit dieser Bauweise ist eben auch das „Carbon Europe“ entstanden – das karbonisierte Europa.
Warum wurden diese Ideen nicht weitergetrieben?
Die Ölkrise stoppte diese Entwicklung. Die Stahlproduktion wurde so teuer, dass jegliche Ansätze, die damals gedacht worden sind, im Sande verliefen. Dabei hatten viele Hochschulen angefangen, sich mit diesen so genannten Systembauten zu beschäftigen. Die Idee war, den Stahl im Bauwesen so effizient und günstig zu machen wie in der Automobilindustrie. Leider ist das Denken in Systemen mit der Ölkrise und ihren Folgen auch aus der Architektur verschwunden. Hätte sich dieser Ansatz durchgesetzt, dann wäre möglicherweise das heutige Bauwesen wesentlich agiler für gesellschaftliche und politische Veränderungen.
Die Emissionen im Bauwesen machen 40 Prozent der Gesamtemissionen aus.
Jetzt bauen wir nicht agil, aber immer noch sehr energielastig.
Der Verlust der innovativen Bauweise ist ein Nachteil dieser Strategie. Verheerender sind die aus dieser Geschichte entstandenen Abhängigkeiten Europas von fossilen Brennstoffen, die bis heute vorherrschen und zukünftige Generationen noch lange beschäftigen werden. Man muss sich klar machen: Die Emissionen im Bauwesen machen 40 Prozent der Gesamtemissionen aus – die Herstellung von Zement und Stahl verbraucht unglaublich viel Energie.
Was wäre die Alternative?
Die Energiewende greift, aber fast nur in einem Sektor: Wir sehen jetzt überall E-Autos, Fahrräder und neue Mobilitätskonzepte. Wir brauchen aber dringend eine ähnliche Wende im Bauwesen – weg vom Stahl und Materialien mit hohen CO2-Emissionen. Wir müssen weg von dem Europa, das die EGKS verbaut hat, und ein anderes Europa bauen. Wir müssen Europa dekarbonisieren. Und dabei geht es nicht nur um technische Lösungen, um die Frage, wie viele Wärmepumpen möglich sind, und auch nicht nur um weniger Abhängigkeit. Das muss auch ästhetisch gedacht werden. Die Architektur hat ein enormes Potenzial, hier mitzuwirken, an einer Wende zu mehr Unabhängigkeit und einem neuen Bauwesen.
Warum wird das nicht mehr gemacht? Das wäre doch gerade für Architekt*innen eine Möglichkeit, sich in einem zentralen gesellschaftlichen Thema zu profilieren.
Das Projekt New European Bauhaus der EU versucht das gerade, mit vielen herausragenden Projekten, bei denen es um Kreativität, Nachhaltigkeit und Zukunft geht – und darum, Menschen mitzunehmen. Da gibt es Häuser, die nicht nur energieeffizient sind, sondern auch soziales Miteinander ermöglichen, wie Gleis 21 in Wien. Oder die müllfrei gebaute Bushaltestelle in Tallinn, Estland. Das Strickprojekt in Spanien, mit dem Straßen beschattet werden. Aber die, die sich hier engagieren, stoßen immer wieder auf enorme Hürden. Das reicht von der Bürokratie bis zu fehlenden innovativen Architekturbüros, oder auch dass Hochschulen sich dafür nicht interessieren. Wir müssen als Architekt*innen viel stärker darüber nachdenken, was zukünftige Generationen betreffen würde, und welche Rechte sie haben.
Sie treffen bei der Ausstellung „Power“ in Brüssel, die vom Goethe-Institut unterstützt wird, auf den Künstler Armin Linke zum „Power Talk“. Was verbindet Sie beide miteinander?
Armin Linke und ich haben schon zusammengearbeitet. Wir haben gemeinsam europäische Entscheidungszentren besucht – wie das Emergency Response Coordination Center, wo man zum Beispiel sehr früh den Ausbruch der Corona-Pandemie registrierte. Das beeindruckt: In diesem riesigen Kontrollraum wurden und werden sozusagen in Echtzeit humanitäre und ökologische Krisen kartiert. Wir interessieren uns beide sehr für EU-Institutionen – seine Bilder dokumentieren etwa, wie Energieströme verlaufen oder wie sie kontrolliert werden. In die Ausstellung „Power“ sind zudem Archiv-Bilder aus meiner Forschung eingeflossen, so dass ein umfassendes, assoziatives Bild entsteht. Zwischen Forschung und Kunst gibt es da viele Verknüpfungen.
Ausstellung „Power“
Die Ausstellung „Power“, die vom 13. Oktober bis 25. Februar 2024 in Brüssel stattfindet, verbindet Fragen zu Energie und Politik. Sie fordert Betrachter*innen dazu auf, sich Gedanken darüber zu machen, wie die zeitgenössische Infrastruktur mit dem täglichen Leben in Verbindung steht – und zwar übergreifend bezogen auf politische Institutionen, Bürgerbeteiligung, Geopolitik, Energiewende und Klimagerechtigkeit. Das Goethe-Institut unterstützt neben der Ausstellung auch das Rahmenprogramm und die Veranstaltungsreihe „POWER Talks“.