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Aktuelle Sachbücher
Vereindeutigung und Desintegration

Zu Beginn von 2019 blicken wir auf eine kleine Auswahl wichtiger 2018 erschienener Sachbücher zurück. Es geht um schwindende Vielfalt in diversen Lebensbereichen, das „Gedächtnistheater“ der Deutschen, einen Leitfaden für aufgeklärte Patrioten und das Phänomen des Geschichtstourismus.

Von Holger Moos

Bauer: Die Vereindeutigung der Welt © Reclam Der Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer sorgt sich um Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Diversität befinde sich überall auf dem Rückzug. Tierarten werden ausgerottet, Obstsorten verschwinden, Sprachen sterben. Diese Vereindeutigung der Welt, so der Titel seines Buches, resultiere aus der mangelnden Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten. Bauer nennt diese Fähigkeit Ambiguitätstoleranz. Und gerade Europa sei historisch betrachtet nie ein Hort kultureller Vielfalt gewesen. Heute sei diese Tendenz demokratiegefährdend, weil die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, als Authentizität getarnt, auf dem Vormarsch sei – zu Ungunsten der Mehrdeutigkeit. „Den Massen verspricht man ‚authentische‘, widerspruchsfreie Politik, entschiedenes Regieren – auch das könnte eine Definition für ‚Populismus‘ sein“, so Franz Schuh in der ZEIT.

Keine Lust mehr auf die „Judenrolle“

Der Schriftsteller Max Czollek hat mit Desintegriert euch! eine viel beachtete Streitschrift veröffentlicht, in der ein Dauer- und Lieblingsthema der Deutschen beleuchtet wird: die Integration. Czollek, der das Buch „als Lyriker, Berliner und Jude“ geschrieben hat, betrachtet etwa die heute in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden als „Figuren auf der Bühne des deutschen Gedächtnistheaters“. Die jüdische Minderheit habe immer schön brav ihre „Judenrolle“ zu spielen, um – nach der Shoah – die „Wiedergutwerdung der Deutschen“ (nach Eike Geisel) zu bestätigen. Auch das Verhalten anderer Minderheiten werde von „deutschen“ Erwartungshaltungen dominiert. So müssten sich etwa Muslime und Musliminnen „permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern […] und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen“ und der Selbstbeweihräucherung der Deutschen als Erinnerungskulturweltmeister dienen.
 
Czollek: Desintegriert euch © Czollek Czollek beobachtet die Wiedergeburt des Nationalismus mindestens seit der Fußball-WM 2006. Die rechtspopulistische bis rechtsextreme AfD ist für ihn „nur ein Nebenschauplatz. Ihr Einfluss gleicht dem einer Indikatorflüssigkeit, die man in das deutsche Parteienspektrum gegeben hat. Plötzlich färbt es sich braun.“ Das völkisch-nationalistische Denken sei zurück, und zwar in allen Parteien. Das Buch wurde kontrovers besprochen (siehe Perlentaucher), Czollek wird Schwarz-Weiß-Malerei und linker Populismus vorgeworfen, dennoch sei es ein wichtiges Buch, erschienen im richtigen Moment: nach den Erfolgen der AfD bei der Bundestagswahl und diversen Landtagswahlen, dem Ende des NSU-Prozesses, der Özil-Debatte usw.

„Das einzig wahre Ausland ist die Vergangenheit“

Dazu passt Thea Dorns „Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ Deutsch, nicht dumpf. Die Autorin stellt die Frage, ob Deutsche eine kulturelle Heimat bzw. Identität haben können, ohne gleich in die neokonservative Ecke der deutschen Leitkultur abzudriften. Jens Bisky äußert in der Süddeutschen Zeitung zwar Einwände gegen das Buch, ihn überzeugt Dorns Plädoyer dennoch, „die Zerrissenheit der deutschen Kultur nicht nur anzunehmen, sondern als ihr Bestes zu nutzen“. Einen Verriss von Dorns Buch hat dagegen Matthias Warkus im Blog 54 Books verfasst.
 
Der Historiker Valentin Groebner erkundet in Retroland das weite Feld des Geschichtstourismus. Im Urlaub gehe es den Reisenden nicht nur um Orte, sondern auch um vergangene Zeiten. Der Urlaub sei ein Versprechen auf eine Reise in ein Früher, „das auf magische Weise konserviert wurde und wieder zugänglich ist“. Groebner bezieht sich in der Einleitung auf ein Zitat von Hans Magnus Enzensberger, wonach die Geschichte der einzige Ort sei, der noch exotische Qualitäten habe: „Das einzig wahre Ausland ist die Vergangenheit.“ Ronald Düker lobt Groebners Essay in der ZEIT als klug, anschaulich und pointenreich.
 
Rosinenpicker Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.
Ditzingen: Reclam, 2018. 104 S.
ISBN: 978-3-15-019492-8
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Czollek, Max: Desintegriert euch!
München: Hanser, 2018. 206 S.
ISBN: 978-3-446-26027-6
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Dorn, Thea: Deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten.
München: Knaus, 2018. 336 S.
ISBN: 978-3-8135-0810-9

Groebner, Valentin: Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen .
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2018. 224 S.
ISBN: 978-3-10-397366-2

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