Juli Zeh
Der perfekte Albtraum
In ihrem jüngsten Roman widmet sich die Erfolgsautorin Juli Zeh dem Befinden eines scheinbar emanzipierten Mannes. Das Aufdecken einer Familientragödie sorgt für Spannung.
Von Eva Fritsch
Plagen einen im Erwachsenenalter verschiedenste Neurosen und Ängste, liegen diese – frei nach Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse – zumeist in der Kindheit begründet. Auf dieser These basiert auch der aktuelle Roman
Neujahr von Juli Zeh. Die promovierte Juristin beschreibt dabei den Leidensweg und vor allem den Leidenstag, nämlich den titelgebenden Neujahrstag, an dem sich ihr Protagonist Henning seinem Kindheitstrauma stellt.
Henning, um den sich die knapp zweihundert Seiten drehen, lebt den angeblich perfekten Traum des emanzipierten Mannes: Mit seiner Frau Theresa und den gemeinsamen Kindern, Bibbi und Jonas lebt er in einer schönen Wohnung in Göttingen. Theresa arbeitet in einem Steuerbüro, Henning als Lektor in einem Sachbuchverlag. Sie haben sich die Betreuung der Kleinkinder aufgeteilt, beide sind halbtags berufstätig.
Psychoanalytisches Konstrukt
Über Weihnachten und Silvester verbringt die Familie zwei Wochen auf Lanzarote. Am Neujahrstag zieht Henning los, um die Insel alleine mit dem Fahrrad zu erkunden. Symbolisch zur Lösung der Geschichte und damit auch zum Ursprung und Grund seines Traumas erklimmt er mit dem Rad den Atalaya-Vulkan; sein Ziel ist das Bergdorf Femés. Parallel dazu vollzieht sich sein Seelenstriptease: „Henning umklammert die Lenkstange, die Knöchel treten weiß hervor. Bei jedem Tritt zieht er mit ganzer Kraft, als sollten die Muskeln reißen. Scheiß-Theresa, Scheiß-Theresa, Scheiß-Theresa. Das passt schlecht in den Rhythmus, fühlt sich aber trotzdem gut an. Scheiß-Jonas, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie.“Denn Henning ist zwar nach außen der emanzipierte Vorzeigemann, in Wahrheit aber ängstigt sich der Familienvater enorm: vor seinen Aufgaben als Ehemann und als Erzieher seiner beiden kleinen Kinder. Dass etwas nicht stimmt, äußert sich in unkontrollierbaren Panikattacken, die Zeh mit dem Wort ES (im Roman in Versalien geschrieben) beschreibt – noch deutlicher hätte man wohl kaum den Bezug zur Freud’schen Psychoanalyse herstellen können: „Manchmal weckt ES ihn mitten in der Nacht. Er fährt dann aus dem Schlaf und bekommt keine Luft, muss sofort auf die Toilette, will schreien oder den Kopf an die Wand schlagen.“
Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Erinnerung
Neujahr spielt mit verschiedenen Zeitebenen und den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Erinnerung. Denn die Erinnerung an das Erlebnis, das der Familienvater am Neujahrstag gewissermaßen rückblickend „aufdeckt“, fehlte ihm bislang. Problematische Ereignisse in der Vergangenheit – sein eigener Vater verließ die Familie, als Henning etwa fünf Jahre alt war – werden nach und nach angedeutet, und so verwundert es auch nicht, wenn es an einer Stelle heißt: Henning „zieht es vor, sich gar nicht zu erinnern“. Dass dies nicht lange gut geht, deutet Zeh von Beginn des Romans deutlich an.Im Mittelteil von Neujahr schließlich ändert sich die Zeitebene. Handlungsmittelpunkt ist nun ein Erlebnis in Hennings Kindheit, das eng mit der kanarischen Insel und seinen Problemen in der Gegenwart verknüpft ist. Auch wenn vor allem dieser Rückblick spannend gestaltet ist und man „mitfiebert“, gerät die Zeichnung der Romanfiguren häufig arg schablonenhaft: Die Eltern von Theresa, die sich nur für sich selbst und ihr perfektes Rentnerdasein interessieren und Hennings schwierige Schwester Luna, die auch der Schlüssel für seine psychischen Probleme sein soll, erfüllen Klischees, die der Roman nicht gebraucht hätte. Am Ende scheint die Krise überwunden – Freud wäre entzückt. Der Leser wiederum ist möglicherweise enttäuscht – aber auch nur beinahe. Denn Juli Zeh versteht es ohne Zweifel, Spannung und Atmosphären zu erzeugen, die mitreißen und ungeschönt in menschliche Abgründe blicken lassen, auch wenn diese manchmal erst mit dem Fahrrad „erklommen“ werden müssen.
München: Luchterhand, 2018. 192 S.
ISBN: 978-3-630-87572-9