Talmatschi
„Weder der Autor noch der Übersetzer erfassen das Leben in seiner Gesamtheit“

Radmila Mladenova ist ihren Leser*innenn vor allem durch ihren intimen, geradlinigen und experimentellen Roman "Unser weißes Schlafzimmer" bekannt. Allerdings macht das Schreiben nur einen Teil ihrer Interessen aus. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin arbeitet sie mit Wörtern und Bildern als Literaturwissenschaftlerin, Journalistin, Übersetzerin und in den letzten Jahren als Forscherin. In unserem nächsten Interview aus der Rubrik Talmatschi sprechen wir mit Radmila Mladenova über den langen Weg der Selbsterkenntnis, die Dokumentation der Lebenserfahrung, die Kunst des Übersetzens und über den Sinn des Schreibens.

Von Simona Ganeva

Radmila Mladenova © Herbert Heuss Frau Mladenova, welche Berufswünsche hatten Sie als Kind?

Ich habe eine sehr frühe Erinnerung: wie die meisten Kinder meiner Generation hatte ich davon geträumt, einmal Astronaut zu werden. Es hatte etwas Mutiges in diesem Traum, mindestens es schien mir so damals. Ich hatte mir bildlich vorgestellt, wie ich mich mit meinem viel zu großen Raumanzug im Inneren eines Raumschiffs hin und her schwebe und durch ein Bullauge auf die in blau leuchtende Erde hinschaue.

Als das Leben völlig unerwartet mich nach Deutschland schickte, ist mir ein Essay von Joseph Brodsky sehr lieb geworden, dessen Titel „Der Zustand, den wir Exil nennen“ ist. Da ist der Exilautor mit einem Hund verglichen, den man in dem Raumschiff der eigenen Sprache in den Weltraum gejagt hat, wobei dieses Raumschiff – wie es in einem Moment klar wurde – sich nicht erdwärts bewegt, sondern umgekehrt. Über das Exil schreibt Brodsky noch, dass es uns über die Nacht dahin bringen kann, wohin zu gelangen wir normalerweise ein ganzes Leben brauchen. Seine Überlegungen stammen aus dem Zeitalter des Kalten Krieges und obwohl mein Umzug nach Deutschland völlig legal war, und zwar in einer freundlichen Welt, habe ich in den ersten Jahren ein starkes Bedürfnis empfunden, Brodsky zu lesen, und über die Bedeutung seiner Worte nachzudenken; das sich darin enthaltene Versprechen für eine neue Erfahrung hat mir damals großen inneren Halt gegeben.

Anders gesagt, dadurch habe ich etwas über mich selbst und über die Welt gelernt, und nämlich, dass der Traum, in Bezug auf Ihre erste Frage, nichts anderes ist als einen Ausdruck vom unstillbaren Durst nach neuer Erfahrung und Selbsterkennen, der uns seit unserer frühesten Kindheit bewegt.

Joseph Brodsky und Susan Sontag Essays von Joseph Brodsky und Tagebücher von Susan Sontag. Beide waren in den 70er Jahren oft gemeinsam unterwegs. | © Radmila Mladenova Für die bulgarischen Leser sind Sie vor allem mit Ihrem sehr persönlichen Roman „Unser weißes Schlafzimmer“ bekannt. Wer oder was hat Ihren Wunsch geweckt, ein autobiographisches Buch zu schreiben: über die Kindheit, die Familie, die Erinnerungen, die Verluste, die Abschiede, die Vergangenheit? Wie haben Sie sich eigentlich für das Schreiben entschieden?

Das Schreiben, wie man mit dem Schreiben beginnt, das Aufzeichnen – das ist ein Hauptthema in meinem Roman; an dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass das Buch sich hauptsächlich dank meiner Ferne ergeben hatte und dadurch, dass ich 2014 den Masterstudiengang im Fach „Kultur im Prozess der Moderne“ an der Universität Mannheim abgeschlossen habe. Die Tatsache, dass ich plötzlich von meinem üblichen Alltag in Bulgarien räumlich und kulturell entfernt war, und die intensive Beschäftigung mit Texten und Autoren aus der Epoche der Moderne haben mir die Möglichkeit gegeben, mir einen neuen Einblick in meine eigene Lebenserfahrung, in die Sprache, in die Vernunft, in den Menschen und seine Rolle in der Welt zu verschaffen. Die literarische Form des Romans „Unser weißes Schlafzimmer“ – das möchte ich ausdrücklich betonen – ist die Autofiktion; das ich kein autobiographisches Buch, sondern es ist ein Versuch, mein neues Wissen und seine Relevanz zu meiner bulgarischen Erfahrung in eine allgemein gültige Sprache auszudrücken, sodass jeder Bulgare sich von den Bildern, Szenen und Kernmotiven im Buch ansprechen fühlen könnte.

Die kanadische Schriftstellerin Sheila Heti meint, dass sich in ihrem Leben irgendetwas verändert, nur wenn sie ein Buch abschließt, weil das Schreiben ein konkretes Lebensproblem auf eine oder andere Weise löst. Gilt diese Meinung auch für Sie als Autor? Wie hat das Schreiben Sie verändert (insbesondere im Falle von „Unser weißes Schlafzimmer“)? 

Die konkrete, für den Roman grundlegende Lebenssituation kann keine wirkliche Lösung finden, da sie mit dem Tod meines Bruders Georgi Mladenov, Bloke, verbunden ist; er ist den Lesern möglicherweise mit seinen politischen Protest-Graffitis bekannt. Ein Teil von diesen Graffitis sind in den Roman eingegliedert; leider konnte ich mich nicht durchsetzen, dass sie auch auf dem Umschlag zu sehen sind, wo ihren Platz ist. Mit „Unser weißes Schlafzimmer“ habe ich versucht, einen Sinn meines Lebens zu verleihen, der sich gleichzeitig zu der ganzen bulgarischen Gesellschaft bezieht; alles anderes schien mir als einen unzureichenden Grund für meine weitere irdische Existenz.

Graffiti von Bloke, Sofia, Hauptgebäude der Universität Sofia Graffiti von Bloke, Sofia, Hauptgebäude der Universität Sofia | © Todor Stanchev Wie würden Sie Ihren Roman beschreiben? Was war wichtig für Sie beim Schreiben: inspirierend einzuwirken, zu erzählen und anzuvertrauen, direkte Fragen zu stellen...?

Ich möchte, dass der Leser eine innerliche Umwandlung erlebt. Offensichtlich war dieser Roman nötig, da er die Schreiblust in vielen Lesern geweckt hat, vorwiegend Frauen, die den Wert der eigenen Erfahrung erkannt haben und verstanden, wie wichtig ist es, dass man darüber nachdenkt und diese Erfahrung schriftlich festhält.

Bloke.Sofia.Graffiti. Graffiti von Bloke, Sofia, am "Mazedonien"-Platz | © Radmila Mladenova Was meinen Sie, worüber sollten die Schriftsteller heute schreiben? Welche sind die gemeinsamen Themen, die das vergangene ungewöhnliche Jahr 2020 auf die Tagesordnung gesetzt hat?

Das Jahr 2020 hat unsere Ängste ans Licht gebracht; meiner Meinung nach sollten die Menschen der Worte alarmschlagende, haltgebende, heilende Texte erzeugen; Texte, die wecken, die den menschlichen Geist unterstützen und verstärken; die dem Menschen, der in eine schwierige Situation geraten ist, helfen, sein menschliches Antlitz nicht zu verlieren. Texte für die Vernunft zu verfassen, ist nicht schwierig, eine richtig große Herausforderung sind die Texte, die unseren Geist prägen, die be-geist-ern und uns mit der Bewegung des Geistes ausfüllen.

Sie haben Anglistik und Amerikanistik an der Universität Sofia studiert und neben Ihrer Tätigkeit als Autorin von Reiseberichten, Interviews und Publizistik übersetzen Sie Bücher und Filme. Wie würden Sie die Rolle des Übersetzers beschreiben?

Ich darf mit Stolz sagen, dass ich eine Schülerin von den Professoren Alexander Schurbanov und Vladimir Trendafilov bin; von den beiden habe ich am meisten gelernt, was die Kunst des Übersetzens bedeutet. Die Rolle des Übersetzers ist außerordentlich schwierig: sie erfordert Fleiß und Selbstdisziplin, langjährige Erfahrung, große Belesenheit, sowie auch analytisches Denken, Präzision, Humor, künstlerische Darstellungskraft, wobei man all dies voller Demut auf dem jeweiligen Text anwenden soll. Das ist eine Arbeit, die nicht jedem passt.

Was bleibt Ihrer Meinung nach „unübersetzbar“ in einem Text?

Das Unübersetzbare ist das, was immer neue Übersetzungen hervorrufen wird. Durch die Texte fließt eine Lebensenergie hindurch und wenn der Schriftsteller sich an der Grenze zwischen der lebendigen Erfahrung und der Sprache hin und her bewegt, so arbeitet der Übersetzer am Schnittpunkt von der fremden und der mütterlichen Sprache. Man könnte aber nichts dagegen tun:

Unsere Welt ist so beschaffen, dass weder der Autor noch der Übersetzer das Leben in seiner Fülle und Gesamtheit erfassen können. Deswegen vermehren sich auch die Texte.



Welche Schwierigkeiten stehen vor den professionellen Übersetzern heutzutage? Welche Folgen hatte die Corona-Pandemie für Sie persönlich und für die Zunft der Übersetzer in Bulgarien insgesamt?

Eine große Schwierigkeit, die vor unseren wunderbaren Übersetzern schon immer gestanden ist, ist die beleidigend niedrige Vergütung. Allerdings kann ich Ihre Frage nicht kompetent beantworten, da ich mich seit langem nicht mit Übersetzungen beschäftige. In den letzten Jahren habe ich mich hauptsächlich der Wissenschaftsforschung gewidmet; das ist eine einsame Arbeit gleich wie das Übersetzen und sie – wie ich in diesem Jahr feststellte – unterscheidet sich durch nichts von einem lockdown.

Die letzte (sehr übliche) Frage: welche sind Ihre zukünftigen künstlerischen Pläne?

Ich ziehe es vor, mich mit Dingen zu beschäftigen, die bisher nicht gemacht worden sind, und durch Texte neue und bislang unerprobte Wege zu beschreiten. Es ist zu einfach, wenn man eine fertige Textformel nimmt und sie mit verschiedenen, mehr verwickelten Worten und Phrasen ausfüllt; viel schwieriger ist es, eine neue Form zu schaffen, die der realen menschlichen Erfahrung entspricht. Das ist der Grund warum ich mich nach dem Abschluss des Romans – der stark experimentell als Form ist – an die Forschungsarbeit gewendet habe. Wenn Ihre Leser ein Interesse daran haben, könnten sie meine Studien „Patterns of Symbolic Violence“ und „Antigypsyism and Film“ auf der Internetseite von Heidelberg University Publishing anschauen. 2021 stehen noch zwei Veröffentlichungen bevor.
 
Radmila Mladenova © Herbert Heuss Radmila Mladenova arbeitet mit Wörtern und Bildern als Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin. 2008 kuratierte sie die Fotoausstellung „Bulgarien 360 Grad“, 2014 veröffentlichte ihren Debüt-Roman „Unser weißes Schlafzimmer“ (ICU) und 2019 erschien ihre wissenschaftliche Studie „Patterns of Symbolic Violence: the motif of ‘gypsy’ child-theft across visual media“ (heiUP). Sie studierte „Anglistik und Amerikanistik“ in Sofia, „Kultur im Prozess der Moderne: Literatur und Medien“ in Mannheim und zurzeit schreibt ihre Dissertation über „The ‘White’ Mask and the ‘Gypsy’ Mask in Film“ am Slavischen Institut in Heidelberg.