Verachtet und verlacht

Ein Schuss von Kosturitsa Filmen imago images / United Archives


Vorurteile gegen Sinti und Roma sind fest in unseren Köpfen verankert, sagt Radmila Mladenova in einem Interview für die Zeitschrift Chrismon. Auch weil Filme sie immer noch ständig reproduzieren.

Die Fragen stellte Burkhard Weitz

chrismonFrau Mladenova, woher kommt Ihr Interesse am Thema Antiziganismus?

Radmila Mladenova: 2008 und 2009 hatten Rechtsradikale in Ungarn zehn Roma-Siedlungen überfallen, Häuser in Brand gesetzt und auf die fliehenden Menschen geschossen. 55 Roma wurden verletzt, fünf von ihnen schwer, sechs ermordet, unter ihnen der ­27-jährige Róbert Csorba und sein fünfjähriger Sohn Robika. Daraufhin haben der Internationale Bauorden und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma Baucamps für Freiwillige aus ganz Europa organisiert, um die Opfer dieser Anschläge zu unterstützen und ihre Häuser wieder aufzubauen. Da waren Freiwillige aus Polen, Deutschland, Ungarn, einer ­sogar aus Japan; ich komme aus Bulgarien. In Tatárszentgyörgy haben wir das Haus der Großeltern, die ihren Sohn und ihr Enkelkind verloren hatten, renoviert. Daneben stand das niedergebrannte Haus des getöteten Familienvaters Róbert. Ich habe darüber für die bulgarische Presse berichtet. Es war eine Herausforderung, einen Artikel im Feuilleton der Zeitung "Capital" zu platzieren und meine Erfahrungen so zu schildern, dass sie bei den Lesern die stereotypen Vorstellungen über ­Roma überwinden.

Radmila Mladenova © privat Radmila ­Mladenova, ­geboren 1977, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität ­Heidelberg. Sie empfiehlt die Filme "Aferim!" von Radu Jude (2015), "Der Müllhubschrauber" von Jonas Selberg­Augustsén (2015) und "The Deathless Woman" von Roz Mortimer (2019).


Burkhard Weitz © Lena-Uphoff Burkhard Weitz ist chrismon-Redakteur und zusammen mit Claudia Keller  verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Er ist ordinierter Pfarrer und Journalist. Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war seither mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika.

Was für stereotype Vorstellungen?

Vorstellungen, die ich selbst im Kopf ­hatte, bevor ich angereist war. Ich hatte keine ­Ahnung, wer die Leute in diesem Dorf sind. Sie leben in einem sehr armen Teil, fast außerhalb des Dorfes. Ich habe mich gefragt: Kann ich ­meinen Laptop mitnehmen oder verschwindet der da? Später habe ich den Computer oft im Haus dort vergessen, es gab überhaupt ­keinen Grund, solche Ängste zu haben. Ich habe mich sofort mit der Familie ange­freundet, ein wenig Ungarisch gelernt. Die Familie hatte damals keinerlei Unterstützung bekommen. Die Bürgermeisterin hat sie nicht besucht. Sie hatten Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Uns Freiwilligen hat sich die ­Familie immer mehr geöffnet: Sie fingen an zu lächeln, ließen sich fotografieren, haben für uns lecker gekocht. Bei unserer Abschiedsparty saß die Familie mit der Schuldirektorin an einem Tisch und die Kinder gingen wieder zur Schule.

"Ich traf sogar glückliche Zigeuner" (Aleksandar Petrović, 1967) "Ich traf sogar glückliche Zigeuner" (Aleksandar Petrović, 1967) | © ddp images Was machte diese Familie zu Roma?

Die Frage kann man auch anders stellen: Was macht mich zu einer Bulgarin, was macht Sie zu einem Deutschen? Man identifiziert sich mit bestimmten Orten, mit der Sprache.

Roma sprechen Romanes, eine eigene Sprache in vielen regionalen Ausprägungen...

. . . vielleicht tragen sie auch bestimmte tradi­tionelle Kleidung. Aber Menschen sind so viel mehr als diese Etiketten. Und was wir Identität nennen, setzt sich aus vielen ­Fa­cetten zu­sammen. Als ich für die bulgarische ­Presse über die Familie schrieb, musste ich ihre ethnische Zugehörigkeit nennen, denn die Mordanschläge waren ja auch rassistisch ­motiviert. Sie wurden angegriffen, weil sie ­Roma sind. Aber wenn man die Roma-­Herkunft nennt, werden die Klischees in den Köpfen der Leser schon wachgerufen. Roma werden nur dann wahrgenommen, wenn sie ein ethnisches Spektakel darstellen. Aber tatsächlich sind sie wie andere Menschen auch. Und diese Familie lebte in großer Armut. 

Wie fotografiert man Armut?


Und Sie wollten in Ihren Zeitungsartikeln ­erklären, dass diese Menschen vor allem unter ihrer Armut leiden?

Ich wollte vor allen Dingen zeigen, dass sie genauso viel Aufmerksamkeit und Fürsorge benötigen wie jede Familie, die Kinder auf ­diese brutale Weise verloren hat. Die Armut macht es nicht einfach: Wie fotografiert man Armut, ohne dass die Menschen ihre Würde verlieren? Wie konnte ich Leser überzeugen, dass man mit ihnen befreundet sein kann? Und dass man sie nach diesem Trauma nicht einfach im emotionalen Elend alleinlassen darf?

2011 begannen Sie in Mannheim mit Ihrem Masterstudium und haben antiziganistische Klischees in Filmen zu Ihrem Thema gemacht. Warum?

Ich hatte noch meine Erlebnisse aus Ungarn im Kopf, und eine Freundin zeigte mir den Film "Ich traf sogar glückliche Zigeuner" von Aleksandar Petrović von 1967. Ich konnte ihre Begeisterung nicht teilen.
Der Film spielt in einem sehr armen Dorf mit schlammigen Wegen und vielen Gänsen. Der Protagonist verspielt Geld, Armbanduhr und Fernseher und trinkt viel. Er misshandelt seine Frau und stellt einem Mädchen nach. Gegen Ende wird jemand aus Eifersucht erstochen. Der Film wurde für den Oscar nominiert, gilt als Klassiker und hatte einen großen Einfluss auf das jugoslawische Kino. Ich wollte er­klären, warum dieser Spielfilm so eine Faszination ausübt und warum diese Menschen­verachtung im Film als etwas Normales wahrgenommen wird. Daraus ist meine Magis­terarbeit entstanden. Sie wurde als hervorragende Forschungsleistung ausgezeichnet. Das hat mich ermuntert weiterzuforschen.

Normalität ist schwierig zu vermitteln


Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, hat mal sinngemäß beklagt: Es werde so viel – auch wohlmeinend – über antiziganistische ­Stereotypen geredet, dass man thematisch immer bei den Stereotypen hängen bleibe.

Schon sonderbar, wie schwierig die Normali­tät zu vermitteln ist, wie tief verankert die Vorurteile sind. Schon die üblichen Vorurteile aufzuzählen, bedeutet ja, sie zu wiederholen. Roma wollen, wie alle Menschen, in geregelten Verhältnissen leben, ein Auskommen haben, ihre Kinder sollen etwas werden. Das Problem ist aber: Wie kann ich Normalität darstellen? Im Film geht das gar nicht, das will niemand sehen.
"Nellys Abenteuer" (Dominik Wessely, 2016) "Nellys Abenteuer" (Dominik Wessely, 2016) ist ein Kinderabenteuerfilm um die blonde Nelly aus Deutschland, die mit ihren Eltern Urlaub in Rumänien macht. | © Adi Marineci / Indi Film
Ihrer Doktorarbeit schreiben Sie von ­"Zigeunern". Was meinen Sie damit?

In den künstlerischen Werken, im Film, in der Literatur und in der bildenden Kunst geht es fast nie um reale Roma, sondern fast immer um rassistische Imagination, um die ­"Zigeunerfigur". Diese Fantasiebilder meine ich mit "Zigeuner". Sie sind ein Gegenbild zu dem, wie sich die Bevölkerungsmehrheit selbst sehen möchte. Es geht den Filmemachern nicht darum, Sinti und Roma darzustellen.

Sondern?

Vereinfacht gesagt: Eine Nation oder eine soziale Schicht möchte sich als überlegene "weiße" Europäer darstellen oder bestätigen. Adelige Frauen etwa werden im besten Licht gezeigt als "weiß" und unschuldig. Um den ästhetischen Effekt von Weißsein zu erzeugen, braucht der Künstler einen Kontrast: eine "Zigeunerfigur". Solche Kontrastfiguren ziehen sich durch die ganze europäische Kulturgeschichte. Sie sind Teil der Filmsprache geworden, weil sie Botschaften vermitteln, die alle sofort erkennen und entziffern können. Es sind rassistische Narrative. Dieser Rassismus ist Teil unserer Kultur, eine gemeinsame Software. 

Wenn Leute kriminelle Dinge tun, muss man sie verurteilen

Alle Welt redet von rumänischen Bettel­banden. Ist das die moderne Version der ­alten Angst vor "Zigeunern"?

Wenn Leute kriminelle Dinge tun, dann muss man sie nach den Gesetzen verurteilen. Aber man darf das nicht ethnisch umetikettieren und auf die gesamte Minderheit übertragen.

Ein eigenes Erlebnis: Ich radele mit meiner Freundin vom Donauknick in Richtung Budapest. Es ist Abend, wir sehen einen Platz mit Wohnwagen und überlegen, dort zu zelten. Ganz viele Kinder kommen von den Wohnwagen zu uns, umringen uns und fangen wortlos an, unsere Satteltaschen zu öffnen. Wir drängen uns aus der Menge heraus und fliehen entsetzt.

Und was schließen Sie aus diesem Erlebnis? Stellen Sie sich vor, Lohnarbeiter aus Südosteuropa würden von ihren Erlebnissen in den Schlachthöfen Niedersachsens auf Deutsche im Allgemeinen schließen. Sie kommen her, müssen die schmutzigste Arbeit machen, manchmal bekommen sie nicht einmal ihren vereinbarten Lohn ausbezahlt. Was sollen diese Arbeiter in den deutschen Fleischfabriken über Deutsche denken? Würde das dem Bild entsprechen, das Sie als Deutscher von sich haben? Solche Bilder würden die deutschen Medien sicher ungern als repräsentativ verbreiten.
Leni Riefenstahl, "Tiefland" (1954) Regisseurin Leni Riefenstahl spricht bei Dreharbeiten zu "Tiefland" mit Laiendarstellern, Roma, die sie aus Zwangslagern rekrutiert hatte. | © bpk / Erika Groth Schmachtenberger 2016 wurde der Kinderspielfilm "Nellys Abenteuer" gedreht, eine Produktion ­unter anderem von SWR und KiKa. Darin reist die 13-jährige Nelly aus Deutschland mit ihren Eltern nach Rumänien. Sie geht ihren Eltern verloren, findet Unterschlupf in einem ­armen Roma-Dorf und findet nach vielen Abenteuern zu den Eltern zurück. Wofür ­kritisieren Sie den Film?

Der Film wollte zum interkulturellen Dialog beitragen, deutschen Kindern etwas über die rumänische Kultur und Roma-Kultur zeigen. Doch dann suchen sich die Filmemacher die Ärmsten der Armen aus, um die Kultur der Roma darzustellen. Und vor allem setzen sie den Hauptdarsteller Hokus als kriminelle Figur in Szene: Hokus entführt die blonde Nelly gleich zweimal. Der Schauspieler, der den Hokus spielt, ist ein Rom. Aber er ­wurde sehr dunkel gezeigt – mit schwarzem Bart im Schatten seines schwarzen Huts, um einer "Zigeunerfigur" zu entsprechen, also dem ­Klischee, das Filme ständig reproduzieren. 

Der Vorwurf bleibt haften


Andererseits helfen zwei Roma-Kinder Nelly bei ihrer Flucht.

Diese Kinder bleiben bis zum Ende des Films Kleinkriminelle. Sogar das Begleitmaterial zum Film sagt über die Roma-Kinder Roxana und Tibi, dass sie vom Diebstahl leben. Diese beiden Roma sind Helfer, keine Protagonisten. Sie helfen der Heldin, einer Deutschen, die ihr Abenteuer hat. Da mag eine Freundschaft entstehen. Aber bei den Roma bleibt der Vorwurf der Kriminalität haften.

Die Filmemacher sagen, sie hätten in Sibiu recherchiert, um authentische Drehorte zu finden.

Na ja, sie erfinden die Geschichte, dass ein dunkelhäutiger Mann ein blondes Mädchen entführt, und lassen sie in einem realen ­armen Roma-Dorf spielen. Die Frage ist ­immer: Was wählt der Filmemacher aus, um seine fiktionale Geschichte zu erzählen? Was für Filter hat er im Kopf, welche Aspekte der ­Realität sondert er aus, um auszudrücken: ­Dies gehört zu den anderen und das zu mir und meiner ­Gruppe. Die realen Drehorte sollen der ­Geschichte ­Authentizität verleihen und bestätigen damit die gezeigten Vorurteile, die den Vorstellungen der Zuschauer entsprechen.

Die Filmemacher sagen: Kinder würden ­keine antiziganistischen Vorurteile aus ­diesem Film mitnehmen, weil die Roma überwiegend sympathische Rollen spielen.

Da hat eine Rezeptionsstudie etwas anderes ergeben. Das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen hat ­Kinder befragen lassen, was sie aus "Nellys ­Abenteuer" gelernt haben. Viele haben sinngemäß geantwortet: Kinder sollen aufpassen, "nicht in fremde Autos einsteigen", "nicht von den Eltern weglaufen". Die Kinder haben den Film durchaus als Warngeschichte verstanden. 

Ein großartiger Künstler

Im 19. Jahrhundert warnten Kinderbücher vor "Zigeunern", die Kinder entführen und schlecht behandeln oder im Zirkus auf­treten lassen. Kennen Kinder dieses Vorurteil überhaupt noch?

Die Bedrohungsgeschichten gehören eigentlich zur schwarzen Pädagogik des 19. Jahr­hunderts. Man hört aber auch heute immer wieder, auch in ernst zu nehmenden ­Medien, dass Roma gejagt würden, weil sie angeblich Kinder entführt hätten. 2013 fanden ­griechische Polizisten ein blondes Mädchen im Haus eines Roma-Paares. Sie ­unterstellten sofort, das Kind sei entführt worden. Die Nachricht schaffte es bis auf die Titelseite der "New York Times". Es stellte sich heraus, dass die blonde Maria das Kind einer bulgarischen Romni ist und von griechischen Bekannten großgezogen wurde. Die Auflösung der Geschichte war für die Presse aber nicht mehr annähernd so interessant.

"Aus dem Leben eines Schrottsammlers" (Danis Tanović, 2013) Die Familie des bosnischen Rom und Schrotthändlers Nazif Mujić spielt in "Aus dem Leben eines Schrottsammlers" (Danis Tanović, 2013) sich selbst. Dafür erhielt er 2013 den Silbernen Bären bei der Berlinale. | © Drei-Freunde Der bosnisch-serbische Filmemacher Emir Kusturica hat komisch-tragische Filme über Roma auf dem Balkan gedreht: voller Farbe und Lebensfreude, voller Musikalität und ­Magie, voller Widersprüche und Überraschungen. Was davon ist Kunst, was Denunziation?

Das ist sehr schwer zu sagen. Ich habe mich sehr intensiv mit seinen Filmen beschäftigt. Er ist ein großartiger Künstler. Er kann sehr ­komplexe Bilder erzeugen, in denen der Einfluss von vielen anderen berühmten Filmschaffenden zu spüren ist: Charlie Chaplin, Orson Welles, John Ford, Andrej Tarkowski, Vittorio De Sica, Francis Coppola. In seinen ­Filmen verarbeitet er die ganze Kinogeschichte.

Kusturica zeigt Menschen, die sorglos in den Tag hineinleben, gut gelaunt fiedeln und Trompete blasen, aber auch hochfahrend sind und sich von ihren Leidenschaften wegreißen lassen. Ist das nicht auch ein positiv-utopisches

Kusturica will die Filmsprache beleben

Gegenbild zum berechnenden und misanthropischen Kapitalismus?

Er liefert auf jeden Fall einen großen Reichtum an Bildern und Geschichten. Allerdings benutzt er die Roma als Laiendarsteller, um rein ästhetische Ziele zu verfolgen. Er will nicht die Minderheit darstellen, sondern die Film­sprache beleben. Mit der ­"Zigeunerfigur" kann man fast alles behaupten: Was ­"Zigeuner" tun, wie sie denken, wie sie sind – und es kommt immer als wahrhaftig rüber.

Das muss ja nicht negativ gemeint sein.

Es geht um die Abweichung und ein zugeschriebenes Anderssein. Das Normale, Regelkonforme ist nicht interessant für eine gute Geschichte. Und für die Abweichung, visuell, sexuell, auch was das Arbeitsethos anbelangt, bieten diese "Zigeunerfiguren" reichlich Anknüpfungspunkte. Im Kino können wir uns dem Spektakel hingeben, aber im Alltag ­müssen Abweichungen sanktioniert werden, und sie werden am Beispiel der Roma stellvertretend sanktioniert, indem man sie sozial ächtet. Kusturica behauptet übrigens auch, Roma hätten eine andere Körpertemperatur. 

Große Kunst - auf Kosten der Roma


Kunst kann größer sein als ihr Autor.

Ja, aber Kusturica lässt extrem arme ­Menschen vor der Kamera tanzen und dionysische Welten erzeugen. Er produziert das Gefühl, dass die Regeln, an die sich die Mehrheit hält, hier nicht gelten und nicht funktionieren. Man kann durch diese Filme Erfahrungen machen und Gefühle erleben, die sonst nicht zugelassen werden. Deshalb sind sie so wirksam. Deshalb will die Mehrheitsgesellschaft diese Filme immer wieder schauen. Das ist große Kunst, aber auf Kosten der Roma.

Müssen Filmemacher eine ethische Haltung haben? Wir hätten Kusturicas Filme nicht, wenn er darauf Rücksicht nehmen würde.

Der Dokumentarfilmer Peter Nestler sagte: ­Ohne moralische Haltung ist das Filmemachen wertlos. Wenn du als Zuschauer weißt, dass da ein bitterarmer Mensch genötigt wird, eine fröhliche Rolle zu spielen, um dich zu unterhalten, und wenn du weißt, dass diese Schauspieler ausgegrenzt bleiben und nie als echte Künstler wahrgenommen werden, dann wird die Freude daran irgendwann bitter – wenn die Zuschauer verstehen, welche Ausbeutung da stattfindet, auch symbolische Ausbeutung. Müssen Ausschweifung, Kontroll­verlust, ­eks­tatisches Leben immer mit einem ethnischen Marker zusammenkommen? 

Gnadenlos ausgebeutet

Leni Riefenstahl ist bekannt als Hitlers Dokumentaristin. Sie filmte die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Während des Zweiten Weltkrieges begann sie mit den Dreharbeiten für den Spielfilm "Tiefland". Darin spielt sie selbst eine verführerisch tanzende "Zigeunerin". Am Ende geht diese Figur mit dem Helden, einem Hirten, in eine strahlende Zukunft. Ihr erster Begleiter verkörpert dagegen antiziganistische Stereotype: Er steht im Schatten, betrinkt sich, ist undiszipliniert, vulgär und herrschsüchtig. Was zeigt Riefenstahl damit?

Der erste Begleiter der Tänzerin verkörpert die verachtenswerte "Zigeunerfigur". Die ­Tänzerin, die Leni Riefenstahl spielt, ist ­eine zwiespältige Figur. Sie ist die Außenseiterin, die Nomadin, die der sesshaften Dorfbevölkerung gegenübergestellt wird – als etwas durchaus Positives. Sie wird als edle Frau inszeniert, die magische Wirkung auf die Männer im Dorf und den Großgrundbe­sitzer hat. Mit der Tänzerin will Riefenstahl die Kraft der Kunst repräsentieren, die eine Gesellschaft verändern kann. Aber in ihrem Film stecken noch viele weitere Aussagen. Die Filmemacherin Nina Gladitz meint etwa, dass der Großgrundbesitzer und dessen Ermordung stellvertretend für das Judentum stehe.

Für diesen Film ließ Riefenstahl Roma aus dem Salzburger Zwangslager Maxglan als Komparsen antreten, später auch 65 ­namentlich bekannte erwachsene Sinti und Roma aus dem Zwangslager Berlin-Marzahn, dazu eine unbekannte Zahl von Kindern. Die meisten von ihnen wurden anschließend in Auschwitz ermordet.

Leni Riefenstahl hat diese Menschen für ihre Zwecke gnadenlos ausgebeutet.

Der Film wurde 1954 uraufgeführt. Da waren all diese inzwischen ermordeten Menschen auf der Leinwand zu sehen.

Ja, auch Kinder. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Die Erfahrung des Filmdrehs muss die Komparsen zerrissen haben. Wie geht ein Mensch mit einem solch extremen Widerspruch um? Als Bild bist du wertvoll, aber als Mensch hast du keinen Wert! Ich weiß es nicht. Noch heute halten viele ­Riefenstahl für eine große Filmemacherin. Der Regisseur Volker Schlöndorff bewunderte sie. Und noch heute werden Roma für die Kunst benutzt und ausgebeutet.

2013 gewann der bosnische Rom Nazif Mujić den Silbernen ­Bären als ­bes­ter Darsteller bei der Berlinale. Er hatte sich in dem Film "Aus dem Leben eines Schrottsammlers" selbst gespielt – zusammen mit ­seiner Familie. Der Plot: Als Schrott­händler lebt er von der Hand in den Mund; doch dann wird seine schwangere Frau krank, und er muss sich Geld leihen, das er niemals zurückzahlen kann. Nazif Mujić hat das sehr gut gemacht. Aber er konnte seiner Armut, die im Film zu sehen war, nicht entkommen, trotz seines Erfolgs als Schauspieler. Die "Deutsche Welle" hat daraufhin getitelt: "Einmal roter Teppich und zurück". 

Wieder alleingelassen


Warum konnte er der Armut nicht ent­kommen?

Nach dem Film war er wieder alleingelassen worden, zurück in der Armut ohne jede Unterstützung. Er war krank und musste wieder Schrott sammeln, um zu überleben.

Immerhin hat er seine Geschichte erzählt.

Nein, ein bosnischer Regisseur, Danis ­Tanovićs, hat seine Geschichte filmisch erzählt. Es war eine Low-Budget-Produktion, und er konnte Mujić nicht wirklich gut dafür bezahlen. Wenn du derart auf der Berlinale ho­fiert wirst, kannst du dann so einfach zurück und wieder dieser Schrotthändler sein? Diese Erfahrung muss für Mujić extrem schwierig gewesen sein.

Nazif Mujić beantragte nach der Berlinale in Deutschland Asyl, er wurde über den Winter geduldet und im Frühjahr 2014 nach Bosnien abgeschoben.

Er musste seinen Silbernen Bären aus Geldnot verkaufen. Im Februar 2018 ist er gestorben, weil er Diabetiker war und sich kein Insulin leisten konnte.


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