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Talmatschi
„Der freie Flug wurde zu einer bewussten Handlung“

Unsere neue Rubrik Тalmatschi möchte sich vertieft und aus erster Hand mit der Übersetzungsarbeit auseinandersetzen, indem wir mit Übersetzer*innen aus dem Deutschen und dem Bulgarischen in verschiedenen Interviews über Literatur, über die Besonderheiten der Übersetzung literarischer Texte sowie über ihren Beruf als Übersetzer*innen sprechen. Hier werden wir euch Übersetzer*innen aus Bulgarien und den deutschsprachigen Ländern vorstellen und den Versuch wagen, den Vorhang zu lüften und einen Blick hinter die Fassade der Übersetzungsarbeit zu werfen.

Das dritte Interview unserer Rubrik ist mit der Germanistin und Übesetzerin von Belletristik und Sachbüchern, Autorin einer Reihe von Studien im Bereich der germanistischen und kontrastiven Linguistik und der Übersetzungswissenschaften, Prof. Ana Dimova. 

Von Georgi Dermendzhiev

Ana Dimova Foto: © privat Frau Dimova, wie hat Sie die übersetzerische Tätigkeit bereichert, was konnten Sie von den Büchern, die Sie übersetzt haben, für sich mitnehmen?

Das erste Buch, das ich am Anfang der 1980er Jahre übersetzt habe, war „Abendlicht“ von Stephan Hermlin. Es erhellte wirklich meinen grauen akademischen Alltag und gab seiner Aussichtslosigkeit einen Sinn, denn dieses Buch war zweifellos ein literarisches Ereignis für die damaligen sozialistischen Länder, und nicht nur für sie. Es ergab sich, dass ich danach hauptsächlich österreichische Autoren zu übersetzen hatte, und dies eröffnete für mich neue Horizonte, weil beim Germanistikstudium in Sofia das Phänomen der „deutschsprachigen“ Literatur kaum beachtet wurde.

Ernst Weiß, Joseph Roth, Karl Kraus und Christoph Ransmayr ließen mich die Welt der Sprache und der Literatur völlig neu erleben. Das Übersetzen lenkte auch meine wissenschaftlichen Interessen in eine neue Richtung, es führte mich zur Übersetzungswissenschaft, die ihrerseits rückwirkend meine bis dahin intuitiven Übersetzungsentscheidungen beeinflusste. In Übersetzerkreisen kursiert ein geflügeltes Wort, die Übersetzungswissenschaft könne für die Übersetzer*innen von Nutzen sein wie die Ornithologie für die Vögel. Dem kann ich nicht zustimmen, denn diese Ornithologie verwandelte für mich das Übersetzen in ein doppeltes Vergnügen, der freie Flug wurde zu einer bewussten, in eine bestimmte Richtung gelenkten Handlung. Und in der Übersetzungspraxis kommt es nicht selten zu „Willkürlichkeiten“.

Neulich ist Ihre Übersetzung der „Reisen in die Ukraine und nach Russland“ vom österreichischen Schriftsteller und Journalisten Joseph Roth erschienen. Im Sammelband sind seine Reportagen aus der Ukraine und aus Sowjetrussland enthalten, die im Jahre 1926 in der „Frankfurter Zeitung“ und in der „Neuen Berliner Zeitung“ veröffentlicht wurden. In Interviews haben Sie mehrmals erwähnt, dass Sie Joseph Rorth sehr gerne übersetzen. Warum würden Sie den bulgarischen Lesern empfehlen, nicht nur seine Reportagen, sondern auch seine Belletristik zu lesen?

Meine erste Begegnung mit Joseph Roth kam in bulgarischer Sprache zustande, als 1981 die Übersetzung des Romans „Radetzkymarsch“ erschien. Ich konnte es kaum glauben, dass ein solches Buch in Bulgarien herausgegeben wurde, es war ja eine Liebeserklärung an die Monarchie. Im Verlag hatte man aber eine gescheite Lösung gefunden, man hatte dem Romantext ein kritisches Vorwort vorangestellt, und zwar von einem prominenten sowjetischen Literaturwissenschaftler, der den hervorragenden Schriftsteller lobte, seine politischen Ansichten jedoch als „naiv“ bewertete. Joseph Roths Ansichten in Sachen Politik waren aber durchaus nicht naiv.

Seine Reportagen über die Ukraine und Russland haben nichts zu tun mit der Bewunderung vieler Intellektuellen im Westen für die russische Revolution. Was Jahrzehnte später alle eingesehen haben, wusste Joseph Roth schon beim Ausbruch der russischen Revolution. Es lohnt sich wohl vom heutigen Standpunkt die Reportagen dieses Österreichers zu betrachten, der die Situation sehr gut einzuschätzen vermochte, wegen seiner Herkunft aus Ostgalizien, an der Grenze zwischen Österreich-Ungarn und Russland. Dies hat mich eigentlich angeregt, dem Verlag „Aquarius“ die Auswahl von Jan Bürger zur Übersetzung anzubieten; ich könnte zwar eine eigene Auswahl treffen, dies würde aber die Herausgabe in Bulgarien komplizierter machen und der Sammelband von Jan Bürger entsprach eigentlich meinen Vorstellungen.

Und nun, was den Schriftsteller Joseph Roth betrifft: Mitte der 1980er Jahre bekam ich den Auftrag, seinen Roman „Die Kapuzinergruft“ zu übersetzen und einige Erzählungen und Novellen auszuwählen, die in einem Sammelband mit dem Roman erscheinen sollten. Dies war meine eigentliche Bekanntschaft mit Joseph Roth. Später habe ich die meisten seiner Werke in deutscher Sprache gelesen, es war ein bezauberndes Gefühl, in seine authentische Sprachwelt zu tauchen, die der deutschen Sprache den Ruf einer Sprache der Dichtung zurückgab. Joseph Roth gehört zu den Autoren, die schwer einzuordnen sind. Er wird zuweilen zu der Neuen Sachlichkeit gerechnet, zugleich aber zur Neuromantik und zum poetischen Realismus. Fast alle Forscher erwähnen aber unter den vielfältigen Stilmitteln in seiner Prosa die Dominanz impressionistischer Techniken, die zur Vielfarbigkeit und sprachlichen Virtuosität seiner Werke entscheidend beitragen.

Diese Vielfarbigkeit und Virtuosität sind auch für sein journalistisches Werk charakteristisch. In der sechsbändigen Werkausgabe (1989 – 91) stellen die ersten drei Bände sein journalistisches Werk vor, das vor allem in den 1920er Jahren entstanden ist. Bevor er durch seine Romane und Novellen berühmt wurde, war Joseph Roth einer der prominentesten Journalisten und Reporter Europas. In seinen Journalistischen Texten ist schon die brillante Sprachkunst des künftigen Schriftstellers erkennbar. Ich hoffe sehr, dass dies auch in der bulgarischen Übersetzung spürbar ist…

2017 wurden Ihre Übersetzungen von vier Novellen und sechs Erzählungen von Joseph Roth (aus dem Jahr 1986) plagiiert. Der Fall hat Aufsehen erregt und löste eine sofortige Reaktion vonseiten der Übersetzergemeinschaft aus. Ist das geistige Eigentum in Bulgarien ausreichend geschützt? Welche Erfahrungen haben Sie in dieser Hinsicht?

Vor dem Erscheinen der „neuen“ Übersetzungen von Joseph Roths Novellen und Erzählungen, die ich schon in den 1980er Jahren übersetzt hatte, war für mich eine Tat dieser Art unvorstellbar. Ich hatte zwar nach den demokratischen Veränderungen durch Kollegen von neugegründeten Verlagen gehört, die sich erlaubt hatten, alte Übersetzungen unter fiktiven Namen nicht existierender Übersetzer neu herauszugeben, um keine Honorare zu zahlen. In diesem Falle handelte es sich aber um eine Angelegenheit völlig anderer Art: jemand hatte seinen wirklichen Namen unter fremde Übersetzungen gesetzt. Ich konnte meinen Ohren und meinen Augen nicht trauen, als ich in verschiedenen Medien die Präsentation mir so vertrauter Texte vernahm oder las.

Fast ein Jahr habe ich gezögert, und wenn mich Kollegen und Freunde nicht ermutigt hätten, hätte ich wahrscheinlich nicht gewagt, diesen Diebstahl publik zu machen. Für die kategorische Unterstützung bin ich meinen Kollegen und Freunden und dem bulgarischen Übersetzerverband sehr zu Dank verpflichtet. Das geistige Eigentum ist in Bulgarien nicht ausreichend geschützt. In dieser Hinsicht habe ich Erfahrungen auch aus dem universitären Bereich: viele akademische Grade und Titel wurden wegen Plagiat in Frage gestellt, sie wurden jedoch nicht aberkannt; in anderen Ländern führten Plagiatsaffären nicht nur zur Aberkennung von akademischen Graden und Titeln, sondern auch zum Rücktritt von prominenten Politikern.

Leider lässt das Internet bei vielen Menschen, besonders bei den Studierenden, das Gefühl entstehen, dass alles im virtuellen Raum allgemeiner Besitz darstellt und jeder davon nach Belieben Gebrauch machen kann, Zitieren gilt als lästige Bagatelle. An den Universitäten werden schon verschiedene Programme zur Feststellung von Plagiaten effektiv eingesetzt. Es ist jedoch höchste Zeit, dass die urheberrechtlichen Gesetze aktualisiert und dann auch wirklich adäquat angewendet werden.

Sie sind Hochschullehrerin, Wissenschaftlerin und Ehrenprofessorin der Universität Schumen. Ein Teil Ihrer Untersuchungen beschäftigt sich mit Humor. Inwieweit ist Humor übersetzbar, welche Besonderheiten hat der deutsche Humor?

Humor hat mich immer interessiert, sowohl in der Literatur als auch im Alltag. Er wurde aber ein Teil meiner wissenschaftlichen Interessen dank einer Studentin, die mit einem DAAD-Stipendium zum Semesterstudium in die Bundesrepublik entsandt wurde. Nach ihrer Rückkehr erklärte sie, dass sie sich die ganze Zeit da sehr unwohl gefühlt habe, weil die Deutschen überhaupt keinen Humor hätten. Das ist in Bulgarien ein gängiges Klischee.

Ich habe mein Bestes gegeben, um die Studentin zu überzeugen, dass die Deutschen einfach einen anderen Humor haben, dass die Kulturen sich eigentlich am stärksten dadurch unterscheiden, worüber die Menschen lachen, und dass man versuchen sollte, sie zu verstehen und mit ihnen gemeinsam zu lachen, um ihnen danach eventuell beizubringen, wie auch sie mit anderen gemeinsam lachen könnten. Eine sehr schwierige Aufgabe. Sie wurde dann zum Thema meiner Monographie über den Witz als sprachliches und kulturelles Phänomen und über seine Übersetzbarkeit.

In Bezug auf Übersetzbarkeit geht es beim Humor um etwas, was in anderen Fällen als unzulässig gilt – um totale Einbürgerung nach Schleiermacher (domesticating translation nach Venutti), um Anpassung des zu übersetzenden Textes an die Traditionen und Erwartungen in der Empfängersprache: denn man kann nicht über Dinge lachen, die einem fremd sind, die man nicht versteht und auf sich selbst beziehen kann. Und die erwähnte Studentin heiratete später einen Deutschen, der einen hervorragenden Humor hat und sogar die obszönen bulgarischen Witze zu schätzen weiß, weil unanständige Wörter darin kein Selbstzweck sind, sondern nur Würze zur eigentlichen, häufig politischen Botschaft darstellen.

Welchen humoristischen Autor würden Sie aus dem Bulgarischen ins Deutsche übersetzen und warum?

Vor geraumer Zeit habe ich einige Epigramme von Radoj Ralin übersetzt, die Wortspiele enthielten, wie sie ähnlich in deutschen humoristischen Texten sehr häufig vorkommen. Ich glaube, dass sie bei den Lesern der Zeitschrift „Neue Sirene“ gut angekommen sind, wo sie neben Aphorismen von Stojan Mihajlovski und Dimitar Podvarsatchov veröffentlicht wurden. Ich würde mir nicht anmaßen, andere humoristische Texte zu übersetzten, dies wäre sicherlich eine Aufgabe für deutsche Muttersprachler*innen, sogar für Schriftsteller*innen mit einem vergleichbaren Schreibstil.

Aleko Konstantinovs „Baj Ganjo“ wurde zu DDR-Zeiten zweimal übersetzt, und zwar von hervorragenden und erfahrenen Übersetzern; die Übersetzungen konnten aber keine angemessene Reaktion vonseiten des deutschsprachigen Publikums auslösen, aus Gründen, die ich schon im Zusammenhang mit der Kulturspezifik des Humors genannt habe. In deutscher Sprache liegt aber ein Fragment aus „Baj Ganjo“ vor, das vom österreichischen Schriftsteller und Komiker Alexander Roda Roda übersetzt wurde im Auftrag von König Ferdinand, als ein Teil des Sammelbandes „Das Rosenland“ aus dem Jahr 1917, der dem deutschen Leserpublikum die bulgarische Literatur vorstellen sollte.

In dieser Übersetzung gibt es zahlreiche Stellen, die man im Übersetzungsunterricht als unzulässige Einbürgerung bezeichnet. In diesem Falle erweisen sie sich aber als eine richtige Entscheidung: Bei der Präsentation einer neuen Ausgabe des Sammelbandes „Das Rosenland“ 1994 im Literaturhaus in Wien konnte ich erleben, wie sich das deutschsprachige Publikum beim Vortragen dieses Fragments vor Lachen ausgeschüttet hat. Der Zweck hatte also wirklich die Mittel geheiligt, wenn der eigentliche Zweck von Humor das Auslösen von Lachen ist. Und ich glaube, dies ist wohl wirklich sein Zweck.

Sie sind nicht nur Übersetzerin, sondern auch Lektorin einer Reihe von Übersetzungen aus dem Deutschen. Können Sie uns Einzelheiten aus der Zusammenarbeit von Übersetzer*innen und Lektor*innen verraten? Warum ist das Lektorieren nicht weniger wichtig als das Übersetzen?

Das Lektorat von Übersetzungen ist manchmal wichtiger als die Übersetzung selbst. Denn beim „freien Flug“ besteht die Gefahr, dass der Übersetzer bzw. die Übersetzerin sich viel zu willkürlich vom Original entfernt, und der Lektor oder die Lektorin sollte ihn oder sie dann rücksichtsvoll lenken. Ich hatte das Glück, dass meine ersten Übersetzungen von Fedja Filkova lektoriert wurden, die sich sehr rücksichtsvoll in meine Arbeit einmischte, sie respektierte meine Entscheidungen, doch manchmal kam die beste Lösung nach langen Diskussionen zustande. Auch Nedjalka Popova, Nadja Furnadzhieva, Darja Haralanova haben meine Übersetzungen lektoriert.

Die aufschlussreichen Erfahrungen mit diesen echten Fachfrauen in Verbindung mit meinen theoretischen Fachkenntnissen konnte ich sehr gut in meiner Arbeit als Lektorin fremder Übersetzungen einsetzen. Außerordentlich wichtig ist die gute Zusammenarbeit von Lektor*in und Übersetzer*in und der gegenseitige Respekt vor der Arbeit des anderen. Meinen Student*innen habe ich immer abgeraten, zu vorschnell den Übersetzer*innen „Fehler“ vorzuwerfen; wenn es wirklich um Fehler geht, sollte man behutsam überlegen, woran sie liegen. Denn Fehler können auch in den besten Übersetzungen entdeckt werden (Irren ist menschlich!), was aber die Qualität des gesamten Textes nicht unbedingt beeinträchtigt. Und es kann vorkommen, dass auch Lektor*innen bzw. Übersetzungskritiker*innen irren.

Das Verhältnis zwischen Übersetzer*innen und Verleger*innen ist auch ein interessantes Thema. Wie verfahren Sie, wenn Sie einen vielversprechenden deutschsprachigen Autor entdecken, der noch nicht ins Bulgarische übersetzt worden ist? Bekommen Sie Unterstützung von Verlagen und/oder Stiftungen?

Die Mehrzahl der Autor*innen, die ich übersetzt habe, gehört nicht zu der neuesten deutschsprachigen Literatur. Wenn es um Werke klassischer oder moderner Autoren geht, bekomme ich normalerweise Angebote von Verleger*innen, die ich annehmen oder ablehnen kann. Von der Gegenwartsliteratur habe ich nur den Roman „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse dem Lege-Artis-Verlag angeboten, da dieser Verlag fast alles von diesem Autor schon herausgegeben hatte. Offensichtlich bin ich überzeugend gewesen, denn mein Vorschlag wurde sofort angenommen.

Das Angebot an den Aquarius-Verlag, die Reportagen von Joseph Roth herauszugeben, wurde ebenfalls ohne Zögern akzeptiert. Meine Zusammenarbeit mit den beiden Verlegerinnen, Sanja Tabakova und Darja Haralanova, war für mich sehr bereichernd, denn sie haben zugleich auch sach- und fachkundig meine Übersetzungen lektoriert.

Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ wurde mir vom Letera-Verlag angeboten, und die Zusammenarbeit mit der Verlegerin und Lektorin meiner Übersetzung Nadja Furnadzhieva war ebenfalls sehr aufschlussreich. In allen drei Fällen konnten wir gemeinsam von internationalen Stiftungen finanzielle Unterstützung bekommen.

Welche Eindrücke haben Sie von der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, welche Tendenzen und Themen zeichnen sich ab, sind Überschneidungen zwischen der bulgarischen und der deutschsprachigen Gegenwartliteratur festzustellen?

Meine Eindrücke von der neuesten deutschsprachigen Literatur sind eher sporadisch, ich kenne diese Literatur eher als Leserin, nicht so sehr als eventuelle Übersetzerin, denn, wie schon erwähnt, übersetze ich lieber Autoren aus älteren Epochen. Aber ich lese gern die Vertreter der neuesten Literatur, weil mich die Problematik interessiert – die Vergangenheitsbewältigung, das Verhältnis zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft, die interkulturellen Zusammenwirkungen und Überschneidungen, besonders bei Autor*innen, für die Deutsch nicht Muttersprache ist.

Außerordentlich interessant finde ich die Brechung der deutschen Sprache und Kulturspezifik durch das Prisma anderer Sprachen und Kulturen. Solche Kulturverflechtungen sind nicht nur für die deutschsprachige Literatur charakteristisch, sie sind aber hier wohl am stärksten ausgeprägt. Ich versuche mir zu erklären, warum der Chamisso-Preis eingestellt wurde, wahrscheinlich, weil die zahlreichen Autor*innen mit nicht deutscher Muttersprache in Deutschland nicht mehr als fremd empfunden werden.

In der bulgarischen Literatur sind ähnlich Tendenzen im Gange, wenn es sich um Bewältigung der jüngsten Vergangenheit handelt. Doch die Bezugnahme auf Fremdheit geht ganz andere Wege, mich interessieren vor allem bulgarische Autor*innen, die außerhalb von Bulgarien leben, aber auf Bulgarisch schreiben und die Probleme aus einer verfremdenden und entfernten Perspektive beleuchten, mit deren Hilfe auch wir die Welt so sehen können, wie sie sich aus der Nähe nicht sehen lässt.

Die Neuübersetzung von klassischen Werken ruft häufig Polemiken hervor. Wie lange lebt eine Übersetzung und sollen Neuübersetzungen gefördert werden?

Neue Übersetzungen werden aus verschiedenen Gründen gemacht. Häufig wird angenommen, dass die Übersetzungen klassischer Werke veraltet sind wegen Veränderungen in der Gesellschaft, der Sprache, der Übersetzungsnormen und wegen Neuinterpretationen dieser Werke. Lange Zeit war die Überzeugung verbreitet, dass ältere Übersetzungen gewöhnlich einbürgernd seien, da die Empfängerkulturen noch nicht bereit wären, fremde und verfremdende Texte zu akzeptieren, so dass die Übersetzungen den Erwartungen der einheimischen Leser*innen angepasst werden sollten.

Und später, wenn das klassische Werk sich eingebürgert habe und die Empfängerkultur bereit wäre, mehr Fremdheit zu akzeptieren, werden neue Übersetzungen gemacht, die bestrebt seien, mehr von den Besonderheiten des Ausgangstextes beizubehalten, den Text durch ungewöhnliche Elemente zu verfremden, d.h. die Einbürgerung wird durch verfremdendes Übersetzen (foreignizing translation) ersetzt. Diese theoretischen Erwartungen wurden nur zum Teil bestätigt.

Denn es gibt nicht selten Fälle, bei denen die Neuübersetzungen sich genau das Gegenteil zum Ziel setzen: den Text den einheimischen Leser*innen näherzubringen, ihren Erwartungen anzupassen und für sie verständlicher zu machen. So begründete neulich die Übersetzerin Ljudmila Kostova ihre Neuübersetzung von Goethes „Wahlverwandtschaften“; obwohl die Übersetzung von Boris Parashkevov aus den 1980er Jahren eine außerordentlich gut gelungene Kombination der beiden Übersetzungsmethoden darstellt, sowohl in Bezug auf die Syntax, als auch auf den Wortschatz, der den Übergang der deutschen Literatur von Klassik zur Romantik sprachlich widerspiegelt.

Die Neuübersetzungen sind also nicht unbedingt als besser zu bewerten, mit der ganzen Relativität und Subjektivität dieser Feststellung. In den letzten Jahrzehnten sind in Bulgarien fünf Neuübersetzungen von Goethes „Faust“ erschienen, doch auch die neuesten unter ihnen können kaum mit den schon existierenden Übersetzungen von Dimitar Statkov und Ljubomir Iliev wetteifern. Sie stellen aber zweifellos ein interessantes Phänomen dar, sind ein fruchtbarer Boden für vergleichende Untersuchungen im Bereich der Kultur-, Sprach- und Übersetzungswissenschaft.

Sollen aber Neuübersetzungen ermutigt werden? Warum eigentlich nicht, wenn keine finanziellen Hindernisse im Wege stehen. Wenn die Neuübersetzung eine angemessenere Interpretation des Originals anbietet, wenn aus politischen oder anderen Gründen die alten Übersetzungen in irgendeiner Weise manipuliert worden sind. Ich würde es z.B. gern mit den „Reisebildern“ von Heinrich Heine versuchen. Nicht weil die alten Übersetzungen nicht gut genug sind. Bei meiner Beschäftigung mit dem Humor und Witz habe ich aber neue Dimensionen dieser Texte wahrgenommen, die man in den 1970er und in den 1950er Jahren nicht zu berücksichtigen vermochte, als die meisten der „Reisebilder“ herausgegeben wurden, und zwar von hervorragenden Übersetzern, die ich für meine Lehrer halte.

Welche bedeutenden Autor*innen der deutschsprachigen Literatur sind nach Ihrer Meinung noch wenig bekannt in Bulgarien und sollten übersetzt werden? 

Die deutschsprachige Literatur ist in bulgarischer Sprache relativ gut vertreten. Vor 1989 vermochten Verlage wie „Narodna kultura“ und einige kleinere Verlage wie „Chr.G.Danov“,dem bulgarischen Leserpublikum die bedeutendsten Werke deutschsprachiger Autor*innen zugänglich zu machen, und zwar in sehr guten Übersetzungen. Heute gibt es einige Verlage, die sich auf deutschsprachige Literatur spezialisiert haben und mit den besten Kenner*innen dieser Literatur zusammenarbeiten. Die Defizite in dieser Hinsicht sind also nicht sehr zahlreich.

Völlig fehlen in der bulgarischen Literaturszene exzellente Komiker, aber auch hervorragende Schriftsteller wie Karl Valentin und der schon erwähnte Alexander Roda Roda. Mit ihren bedeutendsten Werken sind Schriftsteller wie Theodor Fontane und Hans Fallada den bulgarischen Leser*innen zwar bekannt, doch es gibt weitere wichtige Romane von ihnen, die in Bulgarien gut ankommen und die Literaturlandschaft mit Sicherheit bereichern würden.
 

Ana Dimova ist Professorin für germanistische Linguistik und Übersetzungswissenschaft an der Universität Schumen (bis 2016). Sie ist Übersetzerin deutschsprachiger Literatur ins Bulgarische (Joseph Roth, Karl Kraus, Christoph Ransmayr, Paul Celan, Jan Assmann, Hans Fallada, Robert Menasse) und bulgarischer Literatur ins Deutsche (Radoy Ralin, Blaga Dimitrova, Nikolay Kantchev). Sie ist Verfasserin der Bücher (in bulgarischer Sprache): Impressionismus und Übersetzen (1995), Einführung in die Übersetzungswissenschaft (2001) und Der Witz als sprachliches und kulturelles Phänomen. Deutsch-bulgarische Parallelen und Kontraste. Übersetzbarkeit (2006).

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