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„Sterben” – über ein Familienleben

Lars Eidinger und Corinna Harfouch in „Sterben” (2024). Regie: Matthias Glasner
Lars Eidinger und Corinna Harfouch in „Sterben” (2024). Regie: Matthias Glasner | Foto (Detail): © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Wenn die Internationalen Filmfestspiele Berlin einen Preis für das beste Ensemble vergeben würden, müsste er an Matthias Glasners Wettbewerbsfilm „Sterben” gehen.

Von Jutta Brendemühl

Vom Titel des Film sollte sich niemand abschrecken lassen – es geht ebenso sehr um das Leben – oder von der dreistündigen Laufzeit. In fünf Akten werden die Mitglieder der Familie Lunies, dargestellt von einer herausragenden Schauspielerriege, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Sterben zeigt, wie sie versuchen, im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und Träumen, familiären Bindungen und Verantwortlichkeiten zurechtzukommen.

Schonungslos und mitfühlend

Die unterkühlte Mutter Lizzy, der demente Vater Gerd, der überforderte Dirigentensohn Tom und die selbstzerstörerische Tochter Ellen – die Familienmitglieder haben sich entfremdet, jeder kämpft mehr oder weniger tapfer mit seinen Dämonen. Konfrontiert mit dem (drohenden) Tod, begegnen sie sich wieder. Was sich betrüblich anhört, ist stattdessen lebendig, warm und absurd komisch, gleichzeitig zutiefst berührend, fesselnd und merkwürdig tröstlich. Sterben lädt uns zu einer kühnen gemeinsamen Umarmung der Mitmenschlichkeit ein. Glasners große Leistung besteht darin, dass es ihm gelingt, einen schonungslosen aber mitfühlenden Blick auf vier Menschen und ihr Umfeld zu werfen. Er zeigt uns, dass Familiendynamiken in ihren unrealistischen Erwartungshaltungen und gegenseitigen Vernachlässigungen, ihren unausweichlichen Verbindungen und Verwerfungen ähnlich und wiedererkennbar sind.
 
Glasner und seine Darsteller durchlaufen die ganze Spanne von Geburt bis zum Tod und „den schmalen Grat” – so der Titel des vierten Aktes, vor der finalen „Liebe” – , der zwischen den beiden Punkten zu beschreiten ist. Dabei wechseln sich Fehlschläge und Reue, Gleichgültigkeit und Verletzungen mit Hoffnung, Mut und Widerstandsfähigkeit ab. „Wir müssen verstehen, warum wir so sind, wie wir sind”, bringt es Toms selbstmordgefährdeter Komponistenfreund auf den Punkt. 
 
Womöglich geht man wegen Lars Eidinger ins Kino (hektisch zerrieben als Glasners Avatar), den man aus vielen Filmen wie etwa Personal Shopper oder Clouds of Sils Maria kennt, bleibt aber wegen der virtuosen Leistungen von Corinna Harfouch (die spröde, unnahbare Mutter), Robert Gwisdek (der manisch verzweifelte Komponist), Lilith Stangenberg (ebenso gemein wie verletzlich als verlorene Tochter) und Ronald Zehrfeld (Liliths zärtlicher, aber co-abhängiger Liebhaber). Etliche Szenen graben sich ins Gedächtnis ein. Es gibt humorige Momente, wenn sich die erblindende Mutter am Lenkrad von ihrem dementen Ehemann auf der Fahrt vom Supermarkt nach Hause mehr schlecht als recht lotsen lassen muss, mit Effekten, wie wir sie aus dem Film Toni Erdmann kennen. Später liefert sich das Mutter-Sohn-Duo (Harfouch und Eidinger, die sich nach Hans-Christian Schmids Familiendrama Was bleibt wieder gegenüber stehen) am Küchentisch einen unausweichlichen und unerbittlichen Showdown.

Lieber kämpfen als fliehen

Anregung für Sterben ist das Leben des Regisseurs Glasner, der das Drehbuch nach dem Tod seiner Eltern in einem Café schrieb, während er auf die Kinder aufpasste. Glasners letzter, ebenso schlicht betitelter, aber aufgeladener Berlinale-Beitrag Gnade vor mehr als einem Jahrzehnt wirkt wie ein Vorläufer der Kernfamilie in der mitreißend opernhaften Familiensaga Sterben, die verführerisch mit dem jüngsten Familienmitglied und ihrem leidenschaftlichen Manifest für ein gutes Leben beginnt. Ein Drama, das die Zuschauer in ihren Bann zieht, das schwierige, aber lohnende Fragen über den Preis stellt, den wir für das Leben zahlen, und das uns auffordert, zu kämpfen statt zu fliehen. „Die Hoffnung liegt in der Tatsache, dass wir es spielen”, betont Tom bei der Uraufführung der Komposition Sterben seines Freundes.
 
Wenn man bedenkt, dass Glasner bereits zum dritten Mal im Wettbewerb der Berlinale steht, ist er selbst in Deutschland noch relativ unbekannt, aber mit Sterben gelingt ihm großes Kino. Zusammen mit Andreas Dresens leisem Widerstandsdrama In Liebe, Eure Hilde hat die Berlinale 2024 zwei sehenswerte  deutsche Filme präsentiert, vielleicht sogar mit Bären-Hoffnung am Ende des Festivals. Beide Filme lassen uns mit dem Gefühl zurück, dass wir uns im Leben zurechtfinden müssen, das gleichzeitig banal, extrem und unlösbar kompliziert ist, aber im dem wir Akteure sind, deren Entscheidungen zählen. „Du kannst dich entscheiden, nicht unglücklich zu sein”, erinnert Tom seinen Freund.
 

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