Temporäre Architektur
Freiraum für Ideen

Freiluftbücherei in Magdeburg
Freiluftbücherei in Magdeburg | Foto (Ausschnitt): © KARO

In schrumpfenden Städten ist Platz für neue bauliche Ansätze – die sogenannte „ephemere“, also vergängliche, Architektur hat deshalb wieder Auftrieb.

Ein Gebäude ist da – und plötzlich wieder weg. Zurück bleiben Inspiration und manchmal auch ein Imagewandel des Ortes. Der Architekt Thomas Knüvener erklärt das Phänomen und warum es gut zur modernen Gesellschaft passt.

Herr Knüvener, die ephemere Architektur ist viele Jahrhunderte alt, man denke etwa an die temporären Fest- und Theaterbauten des Barock. Warum ist sie im 21. Jahrhundert wieder aktuell?

Ein wichtiger Grund sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Wir leben in Deutschland in einem reichen Industrieland, doch im Gegensatz zu den Nachkriegsjahren gibt es kein kontinuierliches  Wachstum mehr, sondern eine ungleiche Entwicklung in den Städten. Phasen des Aufbaus wechseln sich ab mit Phasen von Stagnation und Schrumpfung. Ausschlaggebend für viele temporäre Konstruktionen und Architekturen sind Orte, die in der Stadt vorhanden waren und sich veränderten. Plötzlich entstand Freiraum – etwa auf verlassenen Industriearealen –, der besetzt werden konnte, weil noch keine dauerhafte neue Nutzung in Aussicht war.

Was macht das nicht-permanente Bauen für Architekten spannend?

Das Interessante an ephemerer Architektur ist, dass sie wie ein Experiment betrachtet werden kann. Anders als bei der herkömmlichen Architektur, die auf eine dauerhafte Nutzung und Präsenz angelegt ist, kann man Dinge ausprobieren und testen. Man kann Materialien einsetzen, die vergänglich sind. Wie in einem Versuchsaufbau kann der Architekt hier Risiken eingehen, um neue Ideen zu entwickeln.

Eine „Rheinfähre“ auf Zeit

Spielt auch die Schnelllebigkeit der heutigen Stadtgesellschaft eine Rolle dabei, dass vergängliches Bauen in den Fokus rückt?

Es gibt auf jeden Fall eine Tendenz zur Eventisierung. Die Menschen in der Stadt sind fasziniert davon, wenn etwas da ist und nach kurzer Zeit wieder verschwindet. Das hat einen ähnlichen Ereignischarakter wie die barocken Festbauten. Allerdings stehen die heutigen nicht-permanenten Bauten einer breiteren Gesellschaftsschicht zur Verfügung – statt wie früher nur dem Adel. Das nutzen Bürgerinitiativen genauso wie große Marken und Unternehmen.

Nennen Sie ein Beispiel.

Wir haben eine Installation für das Schauspiel Köln als Abschluss des zweijährigen Programms „Die Stadt von Morgen“ gemacht. Gemeinsam mit dem Theater und vielen Interessierten haben wir im Spannungsfeld von öffentlichem Raum und Mobilität gearbeitet. Ende Juni 2017 hat die „Raumfähre“ den Betrieb aufgenommen, eine temporäre Fähre zwischen dem Rheinufer am Dom und der anderen Kölner Rheinseite. Dort befindet sich ein Festivalzentrum – ebenfalls eine temporäre Architektur – mit einer nicht-permanenten Bühne.

Plötzlich wieder attraktiv

Was passiert mit ephemerer Architektur, wenn sie nicht mehr gebraucht wird?

Grundsätzlich unterscheiden wir bei architektonischer Nutzung drei Zeitspannen: Bei Events reicht sie von einem Wochenende bis zu einem Monat. Auf der anderen Seite gibt es die dauerhafte Architektur. Die dritte Form ist die Zwischennutzung, die von mehreren Monaten bis zu zwei oder drei Jahren dauert. Typisch ist dieses Modell etwa für Berlin und für das Ruhrgebiet. Manchmal wird eine temporäre Architektur als Zwischennutzung aber auch von der Entwicklung überholt.

Wo zum Beispiel?

Etwa am ehemaligen Güterbahnhof Schalke-Süd. Gelsenkirchen ist sehr stark vom industriellen Wandel geprägt. Der Bahnhof lag lange brach, aber er befindet sich sehr nah am Stadtzentrum, im Grunde in einer guten Wohnlage. Weil Gelsenkirchen eine schrumpfende Stadt ist, war die Nachfrage trotzdem lange unklar. Als städtebauliche Strategie zur Imagebildung entstand auf der Fläche ein temporärer Park mit überdachter Freifläche, Beachvolleyballplatz und kleinen Gärten. Die Strategie ging auf, die Fläche ist mittlerweile wieder bebaut. Hier kann man von einer erfolgreichen Intervention sprechen: Die ephemere Architektur hat einen Imagewandel für den zuvor wenig attraktiven Ort geschafft.
 
  • In Magdeburg entstand auf einer Brachfläche eine temporäre Freiluftbücherei. Foto (Ausschnitt): © Thomas Völkel/KARO

    In Magdeburg entstand auf einer Brachfläche eine temporäre Freiluftbücherei.

  • Die Anwohner beteiligten sich an dem Bau aus Getränkekisten. Foto (Ausschnitt): © Thomas Völkel/KARO

    Die Anwohner beteiligten sich an dem Bau aus Getränkekisten.

  • Die vorübergehende Bücherei in zentraler Lage wurde sehr gut angenommen. Foto (Ausschnitt): © Thomas Völkel/KARO

    Die vorübergehende Bücherei in zentraler Lage wurde sehr gut angenommen.

  • Der Zuspruch war so groß, dass man beschloss, an gleicher Stelle eine dauerhafte Open-air-Bücherei zu bauen. Foto (Ausschnitt): © Thomas Völkel/KARO

    Der Zuspruch war so groß, dass man beschloss, an gleicher Stelle eine dauerhafte Open-air-Bücherei zu bauen.

  • Der Zuspruch war so groß, dass man beschloss, an gleicher Stelle eine dauerhafte Open-air-Bücherei zu bauen. Foto (Ausschnitt): © Thomas Völkel/KARO

  • Der Zuspruch war so groß, dass man beschloss, an gleicher Stelle eine dauerhafte Open-air-Bücherei zu bauen. Foto (Ausschnitt): © Thomas Völkel/KARO

Bibliothek unter freiem Himmel

Partizipation ist derzeit ein wichtiges Schlagwort in der Stadtplanung und -entwicklung. Wie passt die ephemere Architektur zu diesem Trend?

Temporäre Architektur bietet zahlreiche Möglichkeiten zur Partizipation. Die Bauten sind einfacher konstruiert als dauerhafte Gebäude und können leichter umgebaut werden. Die Baumethoden kann sich auch der Laie aneignen, und er kann mitentscheiden, was gebaut wird. Ein Beispiel ist das „Lesezeichen Salbke“ des Architekturbüros Karo: Im schrumpfenden Magdeburger Stadtteil Salbke haben die Planer gemeinsam mit Anwohnern auf der Brachfläche der früheren Bibliothek eine temporäre Freiluftbücherei aus Getränkekisten errichtet. Das war so erfolgreich, dass man sich entschied, dort eine dauerhafte Bibliothek unter freiem Himmel zu bauen.

Wo liegen die Grenzen nicht-permanenten Bauens?

Wir haben hohe Komfortansprüche. Wärme- oder Schallschutz im gewohnten Standard können mit temporären Konstruktionen nicht realisiert werden. Für eine dauerhafte Wohnarchitektur in unseren Breiten ist die ephemere Architektur also keine Lösung, aber sie ist eine interessante Ergänzung im Werkzeugkasten eines Architekten.
 

Thomas Knüvener

ist Architekt und Landschaftsarchitekt und leitet ein Büro in Köln. Zudem lehrt er an der Texas A&M University. Durch Aktionen, Workshops und Diskussionen beteiligt er sich intensiv an der öffentlichen Debatte über die gestaltete Umwelt.

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