Jazz 2020
Entfernung und Selbstverortung
Was passiert, wenn Musiker*innen und Publikum sich nicht mehr nahe sein können? Im Jahr der Coronakrise fanden Jazzfestivals dafür unterschiedliche Strategien. Noch spannender ist, auf welche Ideen Musiker*innen kommen – für sich selbst und die Zukunft der improvisierten Musik. Ihnen gilt es, zuzuhören, denn ihre Existenzen stehen auf dem Spiel.
Von Franziska Buhre
Wie hohl und unbelebt, ja unvollendet ein Raum klingen kann, in dem sich außer Musiker*innen nur Mobiliar befindet, wo Wände und die Decke den Schall sofort zurückwerfen und die Leere nur verstärken, wie ein flaues Gefühl im Magen. Im Angesicht von Konzerten auf dem Bildschirm wird der Verlust der eigenen physischen Präsenz spürbar – eine schmerzliche Erfahrung, nicht mehr durch Anwesenheit Teil des Klanggeschehens sein zu können. Und so vermisst man beim Schauen von Streamings neben dem greifbaren Hörvergnügen immer auch sich selbst in der Umgebung beseelter Akustik.
Pizza und Hunger
Das Moers-Festival versuchte Ende Mai, als eines der ersten vom Lockdown und den internationalen Reisebeschränkungen für Künstler*innen hart getroffenen Festivals, den Konzert-Streamings mit visuellem Nonsens Seele einzuhauchen. Partner für die Streamings war Arte Concert. Während der Konzerte agierte der Schauspieler Matthias Heße auf einem Greenscreen: In silbernem Overall und mit blonder Perücke räkelte er sich wahlweise auf einem projizierten Sofa oder Rehkitz, zerteilte Pizza oder blickte regungslos ins Leere. Als dann ein Berliner Festivalveranstalter, entgegen der offiziellen Ankündigung, in der Halle sei nur eine sehr begrenzte Anzahl an Journalist*innen und Fotograf*innen zugelassen, seine Anwesenheit verriet, indem er anderen Menschen in sozialen Medien versicherte, die Aktionen des Schauspielers störten den Musikgenuss nicht, war klar, dass Konzertveranstalter*innen in Deutschland noch viel über Streaming würden lernen müssen.
Mehr als nur seine Hausaufgaben gemacht hat das Jazzfest Berlin. Schon im Sommer wurden Aufträge für zwei Videoarbeiten an das Kollektiv für improvisierte und komponierte Musik (KIM) vergeben und internationale Musiker*innen eingeladen, in Videos über ihre aktuelle Situation zu sprechen. In den Streamings Anfang November, ebenfalls mit Arte Concert als Partner, waren dann auch Videoarbeiten beteiligter Künstler*innen zu sehen, wodurch ein reizvolles Zusammenspiel aus Raumeindruck, Interaktion der Musiker*innen untereinander und mit der Projektion gelang. Erfreulich war auch die Öffnung von acht Funkhäusern der Landesrundfunkanstalten für Konzert-Streamings mit lokalen Ensembles im Rahmen des Jazzfests. Dass Radiosender Musiker*innen mit ihren Ressourcen unterstützen scheint ausbaufähig, ja sogar angebracht, solange die Coronakrise anhält. Solcher Mittel konnte sich Ronny Graupe nicht bedienen. Der Gitarrist initiierte im März die Konzertreihe Into The Shed. Bei über 50 Streamings aus dem Berliner Club der polnischen Versager gaben sich internationale Musiker*innen diverser Spielarten die Klinke in die Hand – ein wichtiges Signal an Kolleg*innen und Fans, die zu Hause festsaßen, sei es aus Existenzangst, Bedrückung über abgesagte Konzerte oder als Flucht nach vorn in andere Tätigkeiten. „Ich habe Wert darauf gelegt, dass es keine fest geprobten Sachen und Kompositionen sind, sondern dass alles improvisiert ist.“, erzählt Graupe im Gespräch. „Es war gewollt rough, sodass es kein Ausverkauf der Künstler*innen ist. Die Leute sollten hungrig nach Hause gehen oder zuhause bleiben. Wenn alles umsonst und High End gewesen wäre, hätte ich mich nicht wohl gefühlt.“ Von den vielen musikalischen Begegnungen im Duo profitierte Graupe nachhaltig. Und sein Blick auf die Berufspraxis hat sich verändert: „Wenn man plötzlich wieder ein Konzert hat, nehme ich das jetzt viel intensiver wahr.“
Zurück nach Deutschland
Die Pandemie verändert alles für Musiker*innen, von gewohnten Arbeitsabläufen und -umgebungen über Zyklen für Veröffentlichungen und Tourneeplanung bis hin zur Aufgabe des Wohnortes. Noch einen Tag vor seiner Abreise im Herbst nahm der Schlagzeuger Joe Hertenstein mit einer New Yorker Band ein Album auf. Vierzehn Jahre seiner Karriere in New York liegen hinter ihm, die engen Kontakte pflegt er weiter: „Mit einer Band in Brooklyn nehme ich gerade ein remote-Album auf.“, erzählt er am Telefon in Berlin. „Jeder geht ins Studio und wir schicken uns die Tracks hin und her und gucken, ob es stimmt und sich gut anfühlt.“
Niklas Lukassen musste sich im März von Zielen verabschieden, auf die er jahrelang hingearbeitet hat und New York ohne seinen Kontrabass Hals über Kopf verlassen. Er hat an der Manhattan School of Music studiert, Ron Carter blieb auch danach sein Mentor. Lukassen war angefragt für Konzerte mit Mike Stern und als Gast bei Proben der Village Vanguard Big Band unter John Riley – mehr als ungewiss, ob sich diese Chancen noch einmal bieten. Nun lebt er wieder in Berlin, wo er eine ganz andere Ausgangslage vorfindet: „Mich stört, dass die Szenen sehr getrennt sind. Das schlägt sich leider extrem in den Mentalitäten nieder. Ich spiele auch gerne frei improvisierte Musik oder Contemporary Jazz. Als E-Bassist werde ich ganz selten gefragt, weil ich dann für andere der Jazzmusiker bin. Wenn ich einen Pop-Jazz-Gig spiele, merke ich, dass die Leute nicht so starke Improvisatoren sind. In New York ist das anders. Weil man dieselben Leute hat, die unterschiedliche Styles spielen, ist das Publikum dort auch offener.“ Dennoch ist er zuversichtlich: „Ich glaube, es wird viele, sehr elaborierte Alben geben. Was die Jazzszene von allen anderen Szenen unterscheidet ist ja, dass fast alle Jazzmusiker*innen auch Komponist*innen sind. Dahingehend wird es weltweit eine ganz tolle Welle geben, dass man nicht nur als Spieler*in, sondern auch als Komponist*in glänzt.“
Distanzen und Hierarchien überwinden
Vermutlich jede*r Musiker*in kann inzwischen etwas über die Zusammenarbeit mit anderen auf Distanz erzählen, ob von Online-Unterricht von Schüler*innen im eigenen Stadtteil, Videokonferenzen in einer anderen Zeitzone oder eben zeitlich versetzt produzierten Aufnahmen, aus denen ein Album entsteht. Mit fertigen Produktionen gibt sich Nicola Hein nicht zufrieden. Als Doktorand an der New Yorker Columbia University kann der Gitarrist gegenwärtig in Deutschland leben und neue Formate entwickeln: „Mir ist wichtig, dass man sich andere Plattformen und Räume sucht, um weiter international arbeiten zu können. Ich habe angefangen, mit anderen telematisch übers Internet zu improvisieren. Rein musikalisch und in den Bereichen Musik und Tanz, Musik und Video.“
Konkret laden Hein und die Medienkünstlerin Claudia Schmitz andere Musiker*innen und Videokünstler*innen zur Zusammenarbeit ein, so tourten sie in den letzten Jahren durch Asien und Südamerika. Anfang September präsentierten sie im Rahmen der Ars Electronica mit einem Musiker und einer Video-Künstlerin aus Mexiko und einem Pianisten aus Kalifornien die erste Version einer App, die AR-Technologie (Augmented Reality) einsetzt: Mit dem Smartphone kann man live erzeugte Video-Skulpturen im Raum sehen und dazu über Kopfhörer der improvisierten Musik lauschen. Das soll in Zukunft auch live funktionieren, wenn sich Künstler*innen und Publikum an verschiedenen Orten befinden, weitere Kooperationen sind mit Künstler*innen in Kolumbien, Japan und Südkorea geplant.
Auch die Bassposaunistin Maxine Troglauer denkt über die Zukunft des gemeinsamen Erlebens von Musiker*innen und Publikum nach: „Ich hoffe, dass sich neue Formate ergeben, die aus der Not heraus für ein kleineres Publikum gedacht sind und dadurch automatisch inklusiver und aktiver werden. Dass die Hierarchie von „klassischer“ Bühne hoch oben – Publikum unten im Dunkeln aufgebrochen wird zugunsten von mehr Kreativität und Freiraum.“
Ende Oktober ist Troglauer nach New York zurückgekehrt, um ihr Studium an der Manhattan School of Music fortzusetzen, vorerst rein virtuell. „Meine Praxis hat sich sehr verändert, Üben und Musizieren beschränkt sich inzwischen komplett aufs Zuhause. Als Blechbläserin in einer Wohnung im 5. Stock musste ich mich erst daran gewöhnen, dass ständig Leute um mich herum sind. Ich bin enorm auf meine Persönlichkeit und meine Kompetenzen zurückgeworfen, ich übe Solo-Stücke, Solo-Improvisation und denke über Solo-Performances nach.“ Den Einzug von Aufnahme- und Wiedergabetechnologien in nahezu jeden Musiker*innenhaushalt sieht sie kritisch: „Auf einmal wird von Musiker*innen erwartet, dass sie nicht nur ihr Instrument hervorragend beherrschen, sondern sie sollen das bitte auch in allen Genres können, plus sich selbst aufnehmen, streamen, editieren, publizieren, promoten, komponieren, arrangieren – und gleichzeitig noch 20 Anträge auf finanzielle Förderung schreiben, denn Geld will ja am Ende keiner dafür zahlen. Diese Anforderung setzt mich zeitweise enorm unter Druck und ich habe Angst, in diesem rasanten technologischen Selbstoptimierungszwang – der übrigens auch enorm teuer ist – nicht mithalten zu können.“
Musik-Enthusiast*innen sollten solche Worte durchaus als Appell verstehen. Dafür zu sorgen, dass Musiker*innen nicht einfach in Vergessenheit geraten, wenn sie von der virtuellen Bildfläche verschwinden, oder dort noch nicht präsent waren. Wir werden uns wiedersehen, versammelt in einem Raum, draußen oder drinnen, mit Plaudereien im Hintergrund oder tief zufrieden in dem Moment, in dem wir unseren Mitmenschen beim Lauschen gewahr werden. Wir können einfach nicht anders.