Comic-Salon Erlangen 2018
Zeitfenster in die Wirklichkeit
Der Comic-Salon Erlangen 2018 widmete sich der grafischen Reportage. Die Trennlinie in diesem Genre, das kristallisiert sich heraus, verläuft zwischen dem engagierten Journalismus und der ethnografischen Bestandsaufnahme. Zu entdecken waren aber auch Arbeiten von Dorothée de Monfreid, Paolo Bacilieri und Jeff Lemire. Und vor allem aber lehrt der Comic-Salon Respekt für das Gekritzel, für die Skizze und die erste Reinzeichnung.
Von Stefanie Diekmann
Die großen Comic-Festivals finden in kleineren Städten statt. Das gilt jedenfalls für die Festivals von Angoulême, Lucca, Luzern, Erlangen. Und beinahe durchweg zeichnen sich diese europäischen Städte dadurch aus, dass sie über eine Altstadt mit viel historischer Bausubstanz verfügen.
Dass die Comic-Festivals die historische Kulisse suchen, ist interessant insofern, als sich dabei ein Anachronismus herstellt, der für beide Seiten ein Gewinn ist. Die weißen Messezelte vor dem Schlossgarten, die sehr bunten Banner des Comic-Salons vor dem Stutterpalais und dem Stadtmuseum, die zahlreichen Plakate und Aufsteller sind in bestimmtem Sinne die bessere Kunst im öffentlichen Raum. Weil sie nach kurzer Zeit wieder aus dem Stadtbild verschwinden. Und weil sie für die Dauer von ein paar Tagen, ein System von Stationen und Verweisen implementieren, dem ein Moment von Geheimwissen anhaftet. Umgekehrt gilt, dass die historische Kulisse dem Comic etwas hinzufügt, das mit 'Tiefe' oder 'Geschichte' nichts zu tun hat, sondern eine Folie bildet, auf der sich die Konturen der Neunten Kunst noch einmal deutlicher abzeichnen. (Dass der Comic-Salon so weit in die Innenstadt hinein verteilt ist, wird allerdings eine Ausnahme bleiben. Das Kongresszentrum, Schauplatz des Festivals von 1984 bis 2016, ist wegen einer Renovierung nicht nutzbar und steht erst in zwei Jahren wieder zur Verfügung.)
Der Comic-Salon ist heterogen. Und weniger als die meisten Festivals hängt er der Fiktion des thematischen Schwerpunkts an. Es gibt eine zentrale Ausstellung, diesmal zum Thema Comic-Reportagen, und es gibt die anderen, retrospektiv, monografisch, idiosynkratisch ausgerichtet. Manchmal geht es um eine Reihe, wie "Die Unheimlichen", demnächst fünf Bände, die bei Carlsen von Isabel Kreitz herausgegeben und von ihr und anderen Comic-Künstlern als Adaption von Geistergeschichten umgesetzt worden sind. Mit High/Low hat das schon deshalb nichts zu tun, weil die Geistergeschichte zu keinem Zeitpunkt im Verdacht der Hochkunst gestanden hat. Und die schönen Bearbeitungen von "Der Fremde" (Elfriede Jelinek/Nicolas Mahler), "Berenice" (Edgar A. Poe/ Lukas Jüliger), "Das Wassergespenst von Harrowby Hall" (John K. Bangs/Barbara Yelin) etc. lassen erkennen, dass das Unheimliche hier als das behandelt wird, was es sein sollte: ein Projekt für Liebhaber, denen an der sorgfältigen Ausgestaltung gelegen ist.
Mit dem Ende des Comic-Salons zerstreuen sich die Entdeckungen in alle Richtungen. Allein die zentrale Ausstellung, "Zeich(n)en der Zeit: Comic-Reporter unterwegs" dauert den ganzen Sommer (27. Mai bis 26. August 2018) und steht sowohl für den Klassenausflug als auch für das kuratierte Ferienprogramm zu Verfügung. Als Vertreter des Comic-Journalismus figurieren hier, wie überall, Joe Sacco und Guy Delisle. Aber auch: Olivier Kugler, Bo Soremsky, Patrick Chappatte, und ebenso: Sarah Glidden, Viktoria Lomasko, Ulli Lust, deren "Minireportagen" aus dem Berliner Alltag Zeitfenster in eine Wirklichkeit sind, die zehn Jahre später bereits im Verschwinden begriffen ist. (Ein Favorit: die Miniaturen aus dem Einkaufszentrum Gesundbrunnen in Berlin-Wedding: Rolltreppen und Schaufenster, Drehtüren und Sonderangebote, dazwischen die erschöpften Kunden sowie ein paar Figuren, die sich auf Dauer zwischen den Topfpflanzen und Imbissecken eingerichtet haben.)
Die Herren Sacco und Delisle sind bekannter. Und in der Wahl ihrer Locations deutlich anders orientiert. Für die Materialität des Alltags interessieren sie sich durchaus. Aller-dings handelt es sich dabei, nach guter bildjournalistischer Tradition, um den Alltag in ziemlich fernen Ländern (Delisle) oder in Krisengebieten (Sacco), der kartiert und kommentiert, über einen längeren Zeitraum hinweg erkundet und mit mehr (Delisle) oder weniger Distanz (Sacco) geschildert wird. Wollte man eine Trennlinie in diese "Reporter"-Ausstellung einziehen, so verliefe sie nicht zwischen Zeichnern und Zeichnerinnen oder zwischen dem fremden und dem allzu nahen Schauplatz. Was sich vielmehr von "Palästina" (Joe Sacco, ab 1993) bis "Ilakaka" (Bo Soremsky, 2013) konturiert, ist die Differenz zwischen einem engagierten Journalismus, der auch die Form der Parteinahme und der Intervention annehmen kann, und einer ethnografisch geprägten Bestandsaufnahme, die neben der vie materielle vor allem die Position der Beobachter thematisiert.
Nicht genau wissen, was gerade passiert. Oder worin der Konflikt besteht. Oder wie man sich am besten dazu verhalten sollte. Bei Delisle gehört diese Haltung zum Standard, weshalb er im akademischen Umfeld ein ziemlich gutes Standing hat und den Arbeiten von Glidden, Kugler, Soremsky näher steht als Joe Sacco, dem den Ruf als empörter Berichterstatter nicht ganz los wird. Sarah Glidden, bekannt geworden mit "Israel verstehen - In 60 Tagen oder weniger" über eine konfliktbehaftete Studienreise, hat 2016 ein Team von Reportern auf dem Weg durch die Türkei, Syrien und den Irak begleitet und darüber den Comic "Im Schatten des Krieges" verfasst. Olivier Kugler zeichnet für MSF, aber auch für die Süddeutsche Zeitung, The Guardian und The New Yorker, wie Glidden gerne aus der Position eines Beobachters zweiter Ordnung, der sich im Schlepptau der versierten Reisenden bewegt. Bo Soremskys Arbeit "Ilakaka" ist als Teil einer crossmedialen Reportage für arte entstanden. Wie Patrick Chappattes Serie "The Last Phone Call" für die Website der New York Times setzt sie den Reporter-Zeichner ins Bild, ohne zu viel Aufhebens um ihn zu machen.
Die Auszeichnungen? Sie sind in Erlangen weniger bedeutsam als in Angoulême. Aber Ulli Lusts "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" (Bester deutschsprachiger Comic) ist nicht weniger interessant als Lusts Debüt über eine desaströse Italien-Reise. "Esthers Tagebücher" (Bester internationaler Comic), noch bis zum 18. Geburtstag der Titelheldin fortgesetzt, sind ein schönes Experiment in Langzeitbeobachtung. Und Reinhard Kleist, der in Erlangen schon etliche Preise erhalten hat, ist seit Freitagabend der beste deutschsprachige Comic-Künstler. Wer seine zwei Bände über Nick Cave gelesen hat, ist auf jeden Fall zum Berliner Konzert am 14. Juli gegangen.
Dieser Text ist ursprünglich am 7. Juni 2018 im Kulturblog Der Perlentaucher erschienen.