Deutsche Comicszene
Historie mit Witz, Gegenwart mit Tiefsinn
Die Zahl der Comic-Neuerscheinungen in Deutschland steigt – nicht zuletzt dank einer Reihe von jungen Künstlerinnen und Künstlern, die direkt von der Kunsthochschule auf den Buchmarkt strömen. Sie widmen sich aktuellen gesellschaftspolitischen Themen ebenso wie historischen Persönlichkeiten.
Von Ralph Trommer
Die Berliner Mauer ist wieder da. Zumindest in einem Comic. Der Berliner Zeichner Flix alias Felix Görmann hat sie in Spirou in Berlin wieder aufgebaut, um den Helden der Geschichte ins Ostberlin der späten 1980er-Jahre reisen zu lassen. Am Ende des Albums – so werden fest gebundene Comicpublikationen genannt – wird, nicht zuletzt durch Spirous Einwirken, die Wende angedeutet und damit auch das Ende der Mauer eingeleitet. Das Besondere an diesem Album: Als erster deutscher Zeichner hat Flix eine Ikone des franko-belgischen Comics, die 1938 entstandene Figur des Hotelpagen Spirou, zeichnen und interpretieren dürfen.
Sein Berliner Kollege Mawil (Markus Witzel) bekam kurz darauf ebenfalls die Gelegenheit einen belgischen Comicklassiker neu zu interpretieren, indem er um den populären Westernhelden Lucky Luke eine neue Geschichte kreierte. Lucky Luke, der seinen Colt stets schneller ziehen kann als sein Schatten, wurde 1946 von Morris (Maurice de Bévère) erfunden. Beiden deutschen Zeichnern sind liebevolle Hommagen gelungen, die sich durch eine Fülle von Anspielungen – etwa auf die Comicgeschichte – auszeichnen und dadurch sowohl angestammte Fans der Comicserien wie auch neue Leser ansprechen.
Von Graphic Novel bis Manga
Die deutsche Comicszene ist heute nicht durch einen einheitlichen Stil oder eine spezifische Thematik zu definieren. Vielmehr ist eine Vielfalt auszumachen, die ganz verschiedene Genres wie auch Erzählformen umfasst. Ob gesellschaftskritische Graphic Novel, Biografie, klassischer Comic, Manga, Comic-Reportage oder schräge Independent-Geschichte – alles ist vertreten.
Auffällig ist die wachsende Anzahl an Neuerscheinungen. Dazu tragen auch viele junge Künstler und Künstlerinnen bei, die, meist von Kunsthochschulen kommend, erste Werke vorlegen, etwa im Jaja Verlag, bei Reprodukt, Rotopol oder avant. Hanna Gressnich etwa setzt auf einen betont minimalistischen Strich, um in Hanno auf berührende Weise die historisch überlieferte Entwurzelung eines indischen Elefanten im 16. Jahrhundert zu erzählen, der als Geschenk für den Papst nach Europa umgesiedelt wird. In Girlsplaining zeichnet Katja Klengel in lockerem, mit Manga-Elementen versehenem Stil freche, selbstironische Comickolumnen um Geschlechterklischees, mit denen sie täglich konfrontiert wird.
Mit einem Comicstipendium konnte der Zeichner Mikael Ross die Arbeit an seiner berührenden wie zeichnerisch stimmungsvollen Graphic Novel Der Umfall finanzieren. Darin erzählt er – basierend auf Recherchen in Betreuungseinrichtungen – episodenhaft vom geistig behinderten Jugendlichen Noel. Für experimentelles, dokumentarisches Erzählen steht die Zeichnerin Paula Bulling, die in Im Land der Frühaufsteher die Probleme von Flüchtlingen in Sachsen-Anhalt beleuchtet. Im aktuellen Band Lichtpause skizziert sie auf poetische Weise in impressionistischen, mit Buntstiften ausgeführten Panels einen Tag in Algier und greift dabei auf eigene Beobachtungen während längerer Aufenthalte im Land zurück.
Reise in die Vergangenheit
Viele Künstler versuchen, historisch fundierte Erzählungen mit aufwendigen Zeichnungen zu kombinieren. Ein Beispiel hierfür ist Arne Jysch, der mit Der nasse Fisch einen Kriminalroman von Volker Kutscher adaptiert. In seinen naturalistischen Tuschezeichnungen widmete er sich mit besonderer Sorgfalt der historisch exakten Darstellung des Berlins der 1920er-Jahre. Ähnlich sind auch die Newcomer Patrick Spät und Bea Davies verfahren, als sie sich in König der Vagabunden Gregor Gog annahmen, der in der Weimarer Republik unter anderem die „Bruderschaft der Vagabunden“ und einen Vagabundenkongress initiierte, bis er ins Visier der Nationalsozialisten geriet. Wie Jysch arbeitet die Zeichnerin Bea Davies in Schwarzweiß und recherchiert akribisch, wie die damalige Epoche aussah und welche Kleider getragen wurden.
Auch der Zeichner Simon Schwartz, der seine ostdeutsche Herkunft in der Graphic Novel drüben! verarbeitet, hat nach Packeis und Vita Obscura erneut eine historische Figur ins Zentrum seiner Graphic Novel Ikon gerückt: den vergessenen Ikonenmaler Gleb Botkin, der ein Zeuge und Überlebender des Massakers an der russischen Zarenfamilie im Juli 1918 war und später die „falsche Anastasia“ Franziska Czenstkowski unterstützte. In seiner jüngsten Arbeit Das Parlament porträtiert Schwartz ausgewählte deutsche Abgeordnete seit 1848 auf jeweils einer Seite pointiert und mit subtilem Witz. Die dazu gehörige Ausstellung war übrigens die erste Comicausstellung im Deutschen Bundestag. Der Künstler selbst nannte das einen „Ritterschlag“ für den deutschen Comic, eine lange überfällige Anerkennung für die Kunstform.