Gegenwartsliteratur
Schöne neue Utopien
Sternenkriege, Klimakollaps, gefährliche Mutanten: Science-Fiction-Erzählungen beschwören häufig eine dystopische Zukunft herauf. Einige Literat*innen haben es sich zur Aufgabe gemacht, gegenzusteuern – und entwerfen positive Utopien.
Von Romy König
Mary Shelleys Frankenstein dabei beobachten, wie er einen künstlichen Menschen erschafft, sich von Aldous Huxley eine Schöne neue Welt zeigen lassen, mit den Jedi-Rittern dem Krieg der Sterne beiwohnen – Science-Fiction transportiert Leser*innen oder Kinobesucher*innen in fremde Welten. Doch so seltsam diese Welten auch anmuten mögen: Gänzlich losgelöst von der Realität sind sie meist nicht, vielmehr sind diese fiktional gezeichneten Zukunftsbilder oft eine Fortführung der bekannten Welt.
Science-Fiction, sagt Hania Siebenpfeiffer, Professorin für Neuere deutsche Literatur in Marburg, extrapoliere die erlebte Gegenwart auf eine „unbekannte, aber folgerichtige Zukunft hin“. Anders gesagt: Science-Fiction-Geschichten sind zumeist keine bloßen, autarken Gedankenspiele darüber, wie eine Zukunft aussehen könnte. Sie beziehen sich immer auch auf die Welt, wie die Autor*innen – und Leser*innen – sie kennen: Sie sind Fortführungen oder futuristische Ableitungen des Gegenwärtigen. Vielleicht geht es deshalb in Science-Fiction-Geschichten oft um interstellare Kriege, den Klimakollaps oder den drohenden Weltuntergang. Ein ganzes Genre ist geprägt von dystopischen Erzählungen, denn schließlich: Unsere Welt ist nicht perfekt, wie kann es dann die imaginierte Zukunft sein?
Unsere Welt ist nicht perfekt – wie kann es dann eine fiktive Zukunft sein?
Doch muss Science-Fiction zwingend diesen Weg gehen? Kann es nicht auch zukunftsgerichtete Geschichten geben, die eine bessere, eine funktionierende und gesunde Welt zeichnen – positive Utopien in der Gegenwartsliteratur? Donna Haraways Arbeiten beschäftigen sich seit Jahren mit dieser Frage. Die Schriftstellerin und Wissenschaftstheoretikerin aus dem kalifornischen Santa Cruz nutzt gern das Kürzel „SF“, das in der Deutung der Professorin nicht allein als Abkürzung für Science-Fiction steht, sondern auch Begriffe wie Science-Fantasy, Science-Fact, spekulative Fabulation, ja, sogar spekulativen Feminismus umfassen kann.
In ihren Camille-Stories – eingearbeitet in ihr Buch Unruhig bleiben (Original: Staying with the Trouble, 2016) – spielt die US-Autorin verschiedene Möglichkeiten durch: Hier haben Kinder in naher Zukunft drei Eltern, wodurch sich die Erdbevölkerung mal eben um mehr als die Hälfte reduziert. Hier bekommen Menschen das Erbmaterial bedrohter Tierarten transplantiert, wodurch sie zum Weiterleben dieser Spezies beitragen.
Warum all dies? Weil es einen Unterschied macht, wie Geschichten erzählt werden, welche Möglichkeiten und Illusionen sie erlauben. „Es ist von Gewicht, welche Geschichten Welten machen, und welche Welten Geschichte machen“, lautet ein Credo von Donna Haraway. Ihre These: Indem wir utopische Universen bauen, machen wir sie damit nicht auch ein Stück weit mehr möglich?
„Als wäre die Katastrophe unausweichlich“
In Deutschland kristallisiert sich seit einigen Jahren eine literarische Bewegung heraus, die mittels Fiktion positive Zukunftswelten bauen will. So verhandelt etwa Charlotte Krafft in ihren Erzählungen und Essays die Frage, welche Wirkung positiven Utopien haben können. Nach Ansicht der Schriftstellerin können Science-Fiction-Geschichten helfen, die Gegenwart besser zu verstehen. Sich „dem Jetzt aus der Zukunft her zu nähern“, erläutert sie in einem Essay für die Süddeutsche Zeitung, sei „die zeitgenössische Art der Gegenwartserschließung“. Bereits heute geben uns Algorithmen Wegstrecken vor oder zeigten uns Produkte und Streaming-Angebote an, von denen wir vorher nicht wussten, dass wir sie brauchen könnten. Da liege Science-Fiction als Genre nahe: „Die Gegenwart zu beschreiben, indem man Aussagen über eine fiktive Zukunft trifft – das erscheint umso einleuchtender in einer Zeit, die aus der Zukunft kommt und die Gegenwart dadurch ungreifbar und aus gegenwärtiger Perspektive unbeschreibbar werden lässt.“ Auffällig jedoch sei die Tatsache, dass spekulative Literatur heute weitgehend dystopisch sei: „Als wäre die Katastrophe unausweichlich.“
Auf der Suche nach der Utopie
Doch wie anstellen, dass spekulatives Schreiben nicht dystopisch gerät? Wie gelingt, „ein neues Sprechen über die Zukunft“, wie Krafft es ausdrückt. Oder wie sie es eine ihrer Figuren sagen lässt: „Wie komme ich da nur wieder raus?“
Krafft ist Gründungsmitglied der Berliner „Rich Kids of Literature“, einer Literat*innengruppe um Leonhard Hieronymi. Der Schriftsteller veröffentlichte 2017 das Manifest Ultraromantik, in dem er einige Thesen aufführt, was Literatur heute leisten könnte. Über das Schreiben allein, über einen Versuch, ehrlich zu sein, lasse sich keine Wahrheit finden, konstatiert er etwa. „Wahrheit entsteht durch Fiktionen.“ So sei die Handlung in Science-Fiction-Texten zwar fiktiv, könne aber, wenn „der Autor an seine Fiktionen glaubt“, „ehrlich und leidenschaftlich“ sein. Eine Ultrawahrheit, eine „vielleicht bisher unbekannte Form der Wahrheit“, sei schwer zu fassen, könne aber theoretisch entstehen, wenn Schriftsteller das Romantische mit der Science-Fiction zusammenlegten – zu einer Art „Ultraromantik“ oder „Science-Romantik“.
Ob es sich hier um ein neues Projekt handelt, um eine neue Stoßrichtung oder in erster Linie ein „Sprechmodus ausprobiert wird“, wie die Wochenzeitung Die Zeit etwas ernüchtert anmerkt: Es ist ein neuer Move in der Literaturwelt, ein neues Besinnen auch auf Science-Fiction-Autor*innen, die Vorreiter*innen in ihrem Metier waren. „Du hast doch nicht geglaubt, dass du die erste hier bist?“, heißt es
im Essay von Charlotte Krafft. Die erste, die vorstößt in das Literatur-Utopia, in positiv-spekulatives Erzählen, ist Krafft nicht. Da wäre natürlich Donna Haraway. Doch da ist auch die Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin, die bereits Ende der 1960er-Jahre in utopischen Geschichten immer wieder politische und gesellschaftliche Fragen thematisierte. In ihrem Roman The Left Hand of Darkness von 1969 beschrieb sie beispielsweise eine geschlechtslose Gesellschaft.