Comic-Neuerscheinungen
Ausgezeichnete Comics

Cover der Graphic Novels
© Reprodukt, Edition Moderne, avant-verlag, Helvetiq / Canva

Neuere Graphic Novels belegen die Vielfalt des Genres. Anke Feuchtenbergers Opus magnum wurde als Literatur geadelt, Sandra Rummler blickt zurück auf Ostberlin und die Nachwendezeit. Und die beiden Schweizer Autoren Nando von Arb und Tobias Aeschbacher werden für Werke prämiert, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Von Holger Moos

Nicht nur im Comic-Olymp ist Anke Feuchtenberger mit ihrer Genossin Kuckuck angekommen. Als Opus magnum bezeichnet etwa Jan-Paul Koopmann in der taz die umfangreiche autobiografische Bilderzählung. Genossin Kuckuck ist eine absolut ungewöhnliche Graphic Novel, überbordend in den Bild- und Erzählideen. Die Grenzen zwischen Realität und Übersinnlichem sind fließend, aus Erlebnissen werden Traumbilder. Eine klare Deutung ist unmöglich. Ein Mädchen flieht aus einer tristen bis grausamen Wirklichkeit in Fantasiewelten voller Tiere und Pflanzen, doch das ist kein Entkommen, denn die fantastischen Bilder der Illustratorin sind nicht schön, sondern erschaffen eine unheimliche und bedrohliche Szenerie.

Überrascht hat in diesem Jahr die Nominierung von Feuchtenbergers Werk für den Preis der Leipziger Buchmesse – in der Kategorie Belletristik. Von der Jury gelobt wird Feuchtenberger nicht nur für ihre „magisch-düsteren Bilder“, die eine komplexe Kindheit und Jugend im deutschen Osten erzählen, „immer wieder fantastische Tiefenräume… ins kollektive Unbewusste“ öffnen und eine eigene Mythologie kreieren, sondern: „Ein Comic, der dem autofiktionalen Genre eine derartige Ästhetik abgewinnt – das ist ein Novum in der deutschsprachigen Literatur.“ Das war somit ein Ritterschlag für das Genre Graphic Novel, auch wenn es natürlich Stimmen gab, die an der Sinnhaftigkeit eines Vergleichs von Roman und Graphic Novel zweifelten.

Wendeerfahrungen

Ebenfalls im Osten Deutschlands, genauer gesagt in Ostberlin, beginnt Sandra Rummlers Comicdebüt Seid befreit. Dort wurde die Hauptfigur Mo – wie die Autorin – 1976 geboren. Angelehnt an eigene Erfahrungen erzählt Rummler von Mos Kindheit in der DDR und wie sie die Wende und die Zeit danach erlebt hat. Als Mo nach dem Mauerfall nach Westberlin geht, ist sie abends erschöpft von der bunten Warenwelt. Sie ist „froh, in den dunklen und leeren Teil Berlins zurückzukehren“. Die Zeit nach der Wende ist für die Heranwachsende mit dem Versprechen einer fast schon anarchischen Freiheit verbunden, doch bald schon zeigen sich die Schattenseiten. Mos Eltern verlieren ihre Jobs, die Mutter sieht sich gezwungen, als Kassiererin in einem Supermarkt zu arbeiten, und Mo wird von Neonazis bedroht und in der Schule als blöder Ossi beschimpft. „Ich lebte heute in einem anderen Land ohne jemals umgezogen zu sein“, heißt es. Das Wiedersehen mit einem verloren geglaubten Freund ist schließlich ein kleines Happy End.

Im Vergleich zu Genossin Kuckuck ist Rummlers Geschichte wesentlich realistischer. Farblich ist die Umwelt meist dunkel und düster gehalten, teilweise aquarellartig zerfließend, die Figuren heben sich mit helleren und klareren Farben deutlich vom Hintergrund ab. Birte Försters Fazit im Tagesspiegel: „Mit ihrer fulminanten, expressiven Graphic Novel hat Sandra Rummler der besonderen Zeit der Wende und dem Land ihrer Kindheit ein grafisches Denkmal gesetzt.“

Panikattacken und eine verrückte Gauner-Geschichte

Einer der Höhepunkte des diesjährigen Comic-Salons in Erlangen war wie immer die Verleihung der Max und Moritz-Preise. Auch Feuchtenberger und Rummlers Werke zählten zu den Nominierungen. Doch die Preise gingen an andere. Als bester deutschsprachiger Comic ausgezeichnet wurde Nando von Arb für seine Graphic Novel Fürchten lernen. Darin setzt sich der Züricher Autor mit ganz unterschiedlichen persönlichen Angsterfahrungen auseinander. Schon als Kind litt er an Angststörungen und Panikattacken. Zeichnerisch ist Fürchten lernen für die Jury „schlicht spektakulär. Die meisten Seiten bestehen aus einer einzigen Zeichnung, anderswo fließen zwei oder drei Panels zusammen in ein meisterhaft gestaltetes Bild. Die Zeichnungen sind dicht und bunt, stilisiert und expressiv, abstrakt und sinnlich – … eine schwindelerregende Geisterbahn durch einen Irrgarten der Ängste. Und doch hat Fürchten lernen auch eine fröhliche und skurrile Seite. Dieser Humor ist womöglich der Beweis, dass von Arb die eine oder andere Angst überwunden hat.“

Der Preis für das beste deutschsprachige Comic-Debüt ging an den im schweizerischen Biel lebenden Comiczeichner und Illustratoren Tobias Aeschbacher, der in Der Letzte löscht das Licht eine irrwitzige Gauner-Geschichte erzählt. Drei Gangster brechen in ein Haus ein, kommen aber nicht mehr raus. Sie treffen dort lauter Verrückte und andere Kriminelle. „Am Schluss sind alle tot. Wie bei Shakespeare. Oder bei Tarantino … Aeschbachers Debüt funktioniert dank der großartigen Charaktere, der verzwickten Handlung, der Oscar-würdigen Dialoge und Running Gags und der schmissigen Zeichnungen ganz wunderbar“ (aus der Jurybegründung).
Tobias Aeschbacher: Der Letzte löscht das Licht
Basel: Helvetiq, 2024. 128 S.
ISBN: 978-3-03964-040-9

Nando von Arb: Fürchten lernen
Zürich: Edition Moderne, 2023. 428 S.
ISBN: 978-3-03731-256-8

Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck
Berlin: Reprodukt, 2023. 448 S.
ISBN: 978-3-95640-346-0

Sandra Rummler: Seid befreit
Berlin: avant-verlag, 2023. 264 S.
ISBN: 978-3-96445-101-9

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