Wissens- und Wohlfühlorte
Inklusion als Angebot für alle
Seit Längerem ist Inklusion eines der Hauptschlagwörter moderner Bibliotheksarbeit. Gemeint ist damit meistens Barrierefreiheit und ein Bestand an Büchern in einfacher Sprache. Aber das kann nur der Anfang sein.
Von Samira Lazarovic
Zur Grundausstattung vieler Bibliotheken gehören mittlerweile ganz selbstverständlich Leseecken für Kinder, bequemes Mobiliar und ein umfangreiches Veranstaltungsangebot – die einst durchaus elitär erscheinenden Kathedralen des Wissens haben ihre Pforten geöffnet und die Regeln gelockert. „Statt Ehrfurcht einzuflößen und formelle Orte der Gelehrsamkeit zu schaffen, zielt die Gestaltung der Bibliothek des 21. Jahrhunderts darauf ab, der ganzen Community zu nutzen und zum Entdecken und Erkunden einzuladen“, bestätigt die Leiterin des US-amerikanischen Architekturbüros MSR, Traci Engel Lesneski, im Interview mit dem Goethe-Institut.
Das entspricht durchaus den Wünschen tatsächlicher und potenzieller Bibliotheksnutzer. Einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2015 mit knapp 1.500 befragten Personen zufolge sollen Bibliotheken nicht nur als Zentren für Wissen, Information und Beratung dienen. Gewünscht sind zudem Aufenthaltsmöglichkeiten in angenehmer Atmosphäre sowie ein reiches, kulturelles Angebot. Einige Bibliotheken, wie etwa die Zentralbibliothek Hamburg, locken bereits mit Kundencafés und schaffen so neben den stillen Lesesälen zusätzliche Räume, in denen auch ein persönlicher Austausch möglich ist.
Rücksicht auf die Vielfalt der Bedürfnisse
Experten wie Engel Lesneski ist jedoch wichtig, dass diese neuen Wohlfühlorte nicht wieder nur einigen wenigen vorbehalten bleiben. Zwar haben sich die meisten Bibliotheken dem Ziel der Inklusion verschrieben und werben mit Barrierefreiheit in den Räumlichkeiten und einem Angebot an Büchern in einfacher Sprache. Damit ist jedoch die Arbeit in Sachen Gleichberechtigung und Inklusion nach Ansicht von Engel Lesneksi noch längst nicht getan: „Jeder Mensch ist anders. Wir haben unterschiedliche physische Fähigkeiten. Wir nutzen unsere Sinne unterschiedlich. Wir kommen aus verschiedenen ökonomischen Verhältnissen und Kulturen. Wir haben verschiedene Geschlechter, sind nicht im selben Alter. Und doch sind viele Bibliotheken so gestaltet, als ob wir alle dieselben Bedürfnisse haben. Damit nutzen sie nur einem kleinen Teil der Bevölkerung.“
Tatsächlich bestimmen Geschlecht, Alter, Bildungsstand und sozioökonomischer Status bis heute das Nutzungsverhalten öffentlicher Bibliotheken. So nutzen laut der Allensbach-Studie mehr Frauen als Männer Bibliotheken, zudem hatten 32 Prozent der regelmäßigen Nutzer eine höhere Schulbildung, nur 13 Prozent der Befragten bescheinigte sich eine einfache Schulbildung. Außerdem nimmt die Nutzung im Alter ab – lediglich 18 Prozent der befragten Altersgruppe von 60 bis 75 Jahren gab an, in den vergangenen zwölf Monaten eine Bücherei besucht zu haben. Anders als bei den jüngeren Nutzerkreisen ist die Tendenz hier zudem sinkend.
Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden
Doch nicht nur die Integration älterer oder bildungsferner Nutzer wird von modernen Bibliotheken eingefordert. Hierzulande sollen sie beispielsweise auch ihren Teil dazu beitragen, die vielen in Deutschland angekommenen Flüchtlinge und Asylsuchenden zu integrieren. Sprachkurse, wissensvermittelnde Medien, Bilder- und Kinderbücher sollen den Menschen dabei helfen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden.
Natürlich können Bibliothekare und Bibliothekarinnen nicht die Aufgaben von Lehrern oder Sozialarbeitern übernehmen. Sie können jedoch einen Ort schaffen, der Begegnungen ermöglicht und begünstigt. Denn Integration gelingt nur dort, wo auch die Akzeptanz der neuen Mitbürger bei der einheimischen Bevölkerung gefördert wird: „Bibliotheken eigenen sich ausgezeichnet dafür, den sozialen Zusammenhalt vor Ort zu stärken“, sagt Rebecca Smith-Aldrich, Koordinatorin für die Nachhaltigkeit von Bibliotheken in New York, im Interview mit dem Goethe-Institut. „Sie können Menschen zusammenführen und Nachbarn dazu bringen, Multikulturalität anzuerkennen und schätzen zu lernen.“
Dies sind alles keine kleinen Aufgaben für die Bibliotheken, die bereits wegen gekürzter Etats und der fortschreitenden Digitalisierung unter Druck stehen. Doch es spricht einiges dafür, dass sich die Arbeit lohnen wird – in Umfragen ist es den Befragten unabhängig von der aktuellen, persönlichen Nutzung wichtig, dass es auch in Zukunft noch öffentliche Bibliotheken gibt: als Raum zum Entdecken, zum Gestalten und zum Treffen. Aus altehrwürdigen könnten so gesellschaftlich unentbehrliche Institutionen werden.