Comics in Kanada
Die zwei Einsamkeiten der „neunten kanadischen Kunstform“
Kanada ist ein sprachlich gespaltenes Land, in dem der Ausdruck der „zwei Einsamkeiten“ perfekt auf Comics zutrifft. Autor Michel Viau versucht eine historische Einordnung eines lebendigen Kunstmarktes.
Von Michel Viau
Seit 30 Jahren erleben kanadische Comics ein bemerkenswertes Wachstum. Die Anzahl der jährlich herausgegebenen Comicbände steigt kontinuierlich. Jedes Jahr kommen neue Autorinnen und Autoren hinzu und Verlage haben sich auf die Veröffentlichung dieser Werke spezialisiert. Die Medien und Buchhandlungen stellen lokale Werke ins Rampenlicht; für die Leser gibt es viele originale Comics zu entdecken. Trotz dieses Enthusiasmus befindet sich die „neunte kanadische Kunstform“ in einer prekären Situation.
Überaus persönliche, oftmals autobiografische Themen
Kanada ist ein sprachlich gespaltenes Land, in dem der Ausdruck der „zwei Einsamkeiten“ perfekt auf Comics zutrifft. Dabei gibt in der Tat kanadische Comics: in französischer Sprache, konzentriert auf die Provinz Quebec, sowie in englischer Sprache. Aber diese Comics existieren unabhängig voneinander und ohne echte Interaktion. Um sich einen Platz auf dem Buchmarkt, selbst einen noch so bescheidenen, in ihrem eigenen Sprachraum zu erobern, müssen sich die Comics überdies auch gegenüber der starken Konkurrenz aus dem Ausland behaupten. So wird für frankophone Kanadier eine Vielzahl von Comicbänden aus Europa angeboten, vor allem aus Frankreich und Belgien. Englischsprachige Kanadier können aus einer Flut monatlich erscheinender amerikanischer Comic Books an Zeitschriftenständen und in Buchhandlungen wählen.Comics von kanadischen Künstlern gibt es schon lange. 1904 begann die Montrealer Tageszeitung „La Patrie“ die Comicserie „Les Aventures de Timothée“ von Albéric Bourgeois abzudrucken. Es war der erste Comic der Welt mit Sprechblasen in französischer Sprache. Zeitgleich machten sich englischsprachige Karikaturisten in
Toronto und Vancouver Comic-Methoden zu eigen. Die kanadische Produktion wurde in den Zeitungen jedoch rasch von Comics aus dem Ausland verdrängt, da sie wirtschaftlicher waren. Einige Comickünstler gingen dann in die USA, wo sie für amerikanische Verlage arbeiteten. Superman, der erste Superheld der Comicgeschichte, erschienen in den monatlichen „Action Comics“, entstammte der Feder der kanadischen Drehbuchautors Joe Shuster.
Losgelöst von jeglichen Traditionen
In den 1990er Jahren führte das Aufkommen von Graphic Novels zur Schaffung neuer, innovativer und dynamischer Verlagsformen sowohl für französische als auch für englische Publikationen. Diese Verlage ermöglichen es, dass die Werke neuer Autorinnen und Autoren erscheinen können. Losgelöst von jeglichen Traditionen greifen sie einfallsreiche und überaus persönliche, oftmals autobiografische Themen für erwachsene Leser auf.Das Interesse, das durch diese Werke angestoßen wurde, hat einige Verlage, darunter auch Kinderbuch- und Jugendbuchverlage, dazu ermutigt, ihrem Verlagsprogramm eine Comicsparte hinzuzufügen. Die Verlage sind dadurch in der Lage, jungen Lesern Comicbücher anzubieten, die die kanadische Realität widerspiegeln. Abenteuer-Comics wie Science Fiction, Fantasy, Superhelden und Detektivgeschichten wurden durch diese spezialisierten Comicverlage jedoch keineswegs ins Abseits gedrängt. So gibt es heute eine große Vielfalt kanadischer Comics.
Unlängst hat man Versuche begonnen, die beiden Einsamkeiten Kanadas näher zueinander zu bringen. So vergeben Organisationen Auszeichnungen unabhängig von ihrer Originalsprache, Veranstaltungen werden zweisprachig abgehalten und Verlage bieten ihre Kataloge in der jeweils anderen Sprache an.
Diese Annäherungen sind zwar noch zaghaft, aber eines Tages könnten sie zur Entstehung des einen kanadischen Comics führen.