Frauenwahlrecht
Wider die Rolle rückwärts
Deutschland feiert 100 Jahre Frauenwahlrecht, doch die politische Macht ist immer noch ungleich verteilt. In keinem deutschen Parlament sind Frauen zahlenmäßig gleichberechtigt vertreten. Initiativen wie das Helene Weber Kolleg wollen das ändern.
Von Romy König
Man fühlt förmlich den Druck, spürt die einengende, einschneidende Kraft: zwei Korsetts in reinem Weiß, mit starren Fischbeinstäben und kleinen, unnachgiebigen Haken und Ösen. Sie sind das erste, worauf der Blick des Besuchers fallen soll, wenn er die Ausstellung „Damenwahl!“ betritt. Die Metapher ist bewusst gewählt: „Korsetts schränkten die Frauen noch Anfang des letzten Jahrhunderts stark ein und nahmen ihnen Bewegungsfreiheit“, erklärt die Historikerin Dorothee Linnemann, die die Ausstellung als freie Kuratorin für das Historische Museum Frankfurt zusammengestellt hat. Die Ende August 2018 eröffnete Schau bildet das Herzstück der Jubiläumskampagne „100 Jahre Frauenwahlrecht“. Sie widmet sich auf 900 Quadratmetern und mit 450 Exponaten den Vorkämpferinnen des deutschen Frauenwahlrechts, verfolgt deren Geschichte bis zum 19. Januar 1919 – dem Datum, als Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen und gewählt werden durften – und zeigt einen Ausblick auf den demokratischen Neubeginn nach 1945, als die Gleichberechtigung von Mann und Frau in das Grundgesetz der Bundesrepublik aufgenommen wurde.
„Wir entwickeln uns rückwärts“
Für die Berliner Politologin Helga Lukoschat, Vorstandsvorsitzende der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin e.V. (EAF), hat die Ausstellung höchste Aktualität und Relevanz. „Natürlich sind Frauen in der Politik heute nicht mehr die Ausnahme“, sagt sie, „aber eben auch noch längst nicht die Regel. Bis heute ist kein Parlament in Deutschland paritätisch, also gleichberechtigt, mit Frauen und Männern besetzt – und das 100 Jahre nach 1919.“
Auf Kommunalebene seien Politikerinnen nur zu etwa einem Viertel vertreten, fährt sie fort, lediglich zehn Prozent der Bürgermeisterämter werden von Frauen bekleidet. Im Bundestag liege der Frauenanteil derzeit bei 30,9 Prozent der Abgeordneten – so wenig wie zuletzt vor 19 Jahren und um sieben Prozentpunkte geringer als in der vorherigen Legislaturperiode. „Das heißt, hier ist nicht nur Stagnation, sondern gar ein Rückschritt zu beobachten.“
Ein Umstand, den auch die Kommunalpolitikerin Rosemarie Heilig als Frankfurter Dezernentin für Umwelt und Frauen bestätigt. In der Main-Stadt habe es von 2006 bis 2011 eine Oberbürgermeisterin, eine Bürgermeisterin und eine Stadtverordnetenvorsteherin gegeben. „Mittlerweile ist der Frauenanteil in unserer Stadtverordnetenversammlung um zehn Prozent gesunken.“
Mehr tun für starke Kommunalpolitikerinnen
Um Frauen bei ihrem politischen Einstieg in den Kommunen und auf ihrem Weg in der Politik zu unterstützen, gründete die EAF Berlin unter der Ägide von Helga Lukoschat und mit Förderung des Bundesfamilienministeriums 2011 das Helene Weber Kolleg (HWK). Die Namenspatin der Initiative ist die Frauenrechtlerin und Politikerin Helene Weber, eine jener 37 Frauen, die 1919 als erste in das deutsche Parlament eingezogen sind. 30 Jahre und einen Weltkrieg später gehörte Weber dem Parlamentarischen Rat an, setzte sich, gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen Frieda Nadig, Elisabeth Selbert und Helene Wessel, für die Festschreibung der Gleichberechtigung ins Grundgesetz ein. „Die vier Frauen gelten heute als ‚Mütter des Grundgesetzes’“, erklärt Lukoschat. „Sie mussten kämpfen und mobilisieren, damit die Gleichberechtigung in der Verfassung verankert werden konnte. Damit wurde aber lediglich die rechtliche Grundlage geschaffen, in der Realität war die Gleichberechtigung noch lange nicht erreicht.“
Auch heute müssten Frauen immer noch – und wieder – kämpfen, sagt Lukoschat. Sei es für eine gute Position in der Wirtschaft oder innerparteilich um einen vorderen Listenplatz auf dem Stimmzettel. Das HWK organisiert Mentoringprogramme und Seminare für Nachwuchspolitikerinnen, trainiert ihr Durchsetzungsvermögen und macht sie fit für den Umgang mit Presse, Konkurrenten und Kritikern. „Bei uns lernen sie auch, sich Bündnispartner zu suchen.“ Das sei nicht zuletzt etwas, was sich von den Frauen der ersten Frauenbewegung vor 100 Jahren abschauen ließe: Die Pionierinnen seien gut vernetzt gewesen, hätten sich über Partei-, Religions- und Landesgrenzen hinweg zusammengeschlossen und ausgetauscht.
Netzwerke für mehr Frauenpower
Mit seinem Engagement ist das Kolleg nicht allein. National und international haben sich Initiativen der Unterstützung von Frauen verschrieben. Sie beteiligen sich an der Metoo-Debatte, setzen sich für faire Bezahlung oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Die Female Future Force etwa, gegründet von den Edition-F-Redakteurinnen Nora-Vanessa Wohlert und Susann Hoffmann, versteht sich als eine Bewegung „für Female Empowerment“. Zu ihrer Netzwerkveranstaltung Female Future Force Day reisten zuletzt 4000 Besucher an. In Belgien baut unterdessen die Fraueninitiative „Brussels Binder“ eine Online-Datenbank weiblicher Politikexpertinnen und Journalistinnen auf. Das Ziel laut BB-Sprecherinnen Scarlett Varga und Juliane Schmidt: die „mysteriöse“ Abwesenheit von Frauen in der Brüsseler Politikdebatte abzuschaffen.
„Ich bin zuversichtlich, dass die Frauenbewegung weiter lebendig gehalten und von der jungen Generation mit neuen Inhalten gefüllt wird“, sagt Lukoschat. Sie selbst setze sich mit der EAF aktuell für ein Paritätsgesetz ein, eine Art Frauenquote in der Politik. Und so mutet fast prophetisch an, was Marie Juchacz, eine weitere der 1919 gewählten Parlamentarierinnen, vor etwa hundert Jahren sagte: „Durch das Wahlrecht“, so ihr Zitat, das samt Portraitbild großflächig auf einer Fahne in der Frankfurter Ausstellung prangt, „ist die Frau noch nicht frei.“