Deutschland @ Kanada 2017
Wo die Flüchtlingswelle die Lösung und nicht das Problem ist

Doug Saunders bei einer Veranstaltung des Goethe-Instituts Toronto mit Darren O’Donnell, 2016
Doug Saunders bei einer Veranstaltung des Goethe-Instituts Toronto, 2016 | Foto: Goethe-Institut Toronto / Toby Wang

Was passiert mit den zehntausenden Syrern, Eritreern und Irakern, die nicht leblos im Mittelmeer angespült werden oder unter Waffengewalt zurück zur südlichen Küste geführt werden? Wo landen sie? 
 
Die Antwort findet sich erstaunlicherweise am westlichen Rand Deutschlands, im städtischen Umland des Rheins und Mains. Hier, in der pulsierenden Hochburg der ertragreichsten Wirtschaft weltweit, kommt die wohl höchste Anzahl der abgekämpften Menschen aus Afrika und Asien an, wird geordnet, versorgt und (bildlich und im wahrsten Sinne des Wortes) in Boxen gesteckt.     

 

Kein anderes Land nimmt so viele Flüchtlinge auf: 2014 beantragten 173.000 Menschen Asyl in Deutschland (wovon die Mehrzahl bewilligt wurde) – ein Drittel der Gesamtzahl in Europa und mehr als doppelt so viele wie im zweitplatzierten Schweden. (Kanada nahm 13.000 Flüchtlinge im Jahr 2014 auf und es werden 16.000 in 2015 erwartet.) Es ist eine Menschenflut wie es sie seit den Balkankriegen in den 90er Jahren nicht mehr gab, als 438.000 Flüchtlinge im Jahr nach Deutschland kamen.
Anders als in Kanada, wo Flüchtlinge hauptsächlich von Familien und Hilfsorganisationen unterstützt werden, ist dies in Deutschland Sache der Regierung, die die Asylsuchenden auswählt und verteilt: Die Ortschaften und Städte mit der besten Wirtschaftslage erhalten die höchste Anzahl. Jetzt hat Angela Merkel die anderen 27 EU-Staaten dazu aufgefordert, dieses System international umzusetzen. Die Antwort fiel bisher eher zurückhaltend aus.     
 
In Deutschland dagegen empfangen Öffentlichkeit und Politiker die riesige Anzahl der Flüchtlinge überraschend entspannt, sogar optimistisch. Zwar gab es Anfang des Jahres noch ein kurzes Hochkochen migrantenfeindlicher Politik in Städten der ehemaligen DDR (wo es kaum Flüchtlinge gibt), jedoch fand dies ein schnelles Ende. Sogar Flüchtlingsanwälte sagen sie seien über die weitläufige positive Aufnahme überrascht.      
 
„Ich bin wirklich begeistert wie sehr sich dieses Land verändert hat – vor zehn Jahren hätte das Ärger und Misstrauen ausgelöst, aber heute höre ich nichts anderes, als dass die neuen Flüchtlinge freundlich empfangen werden. Die Leute sind wirklich offen“, sagt Zerai Kiros Abraham, ein ehemaliger Flüchtling aus Eritrea, der heute das Projekt Moses leitet, das Flüchtlinge in Frankfurt bei der Integration unterstützt.
Der stellvertretende Bürgermeister der Stadt Frankfurt, Olaf Cunitz, der für Planen und Bauen verantwortlich ist, meint, dass die Flüchtlinge von vielen Deutschen nicht als ein Problem, sondern als eine Lösung gesehen werden. „Was sehr ungewöhnlich ist, ist, dass die Leute hier in Frankfurt dem Thema Flüchtlinge sehr sehr offen gegenüber sind“, sagt er. „Momentan gibt es keinen Widerstand gegen die Ansiedlung von Flüchtlingen, in keinem Stadtteil. Die Leute sagen ‚Wir brauchen neue Leute, die Flüchtlinge brauchen unsere Hilfe. Wir sind eine wohlhabende Stadt, wir können das stemmen‘.“
 
Nirgendwo ist diese Einstellung deutlicher als in dem ländlichen Ort Gelnhausen, östlich von Frankfurt, wo die Behörden hoffen, dass die 2.500 Flüchtlinge, die dieses Jahr kommen sollen, die Lösung für die alternde, schnell sinkende Arbeitskraft ist. Sie wollen im Besonderen Syrer, die der Mittelklasse angehören und über Berufsabschlüsse und technische Fähigkeiten verfügen, die vor Ort gebraucht werden.     
 
“Das Gute an den Flüchtlingen ist, dass sie hier sind – wir müssen nicht in ihre Communities, um sie zu werben“, sagt Susanne Simmler, Leitern des Regionalrats. „Es gibt Arbeitskräftemangel und demografische Veränderungen, deshalb brauchen wir neue Leute – und eine ländliche Gegend wie diese zieht normalerweise keine Migranten an.“
 
Es hilft erheblich, dass Deutschland kürzlich seine Politik bezüglich der Genehmigung zur Ausübung einer Beschäftigung für Flüchtlinge geändert hat: Dies führte früher häufig dazu, dass Asylbewerber auf öffentlichen Plätzen oder in Einkaufszentren herumlungerten, ein Leben am Rande der Gesellschaft führten und generell ein schlechtes Licht auf Migranten warfen – und Deutschland die bitter nötige Arbeitskraft vorenthielten. Jetzt können sie nach drei Monaten anfangen zu arbeiten und Arbeitgeber und Gemeinden setzen Berlin unter Druck, um einen noch früheren Arbeitseinstieg durchzusetzen.   
 
Der Optimismus ist aber vielleicht nur von kurzer Dauer: Anders als Migranten haben Flüchtlinge häufig Schwierigkeiten mit der Integration, da ihnen Sprachkenntnisse, Ersparnisse und Beziehungen fehlen, um ein Unternehmen zu gründen. Oftmals sind sie auch stark traumatisiert. Für den Moment stellt sich dem Land vor allem die Frage, wo man die Flüchtlinge alle unterbringen soll. Viele leben in den tausenden vom Staat gestellten Wohn-Containern, die allerdings ein unschöner Anblick in der Landschaft sind und drohen, unbeliebte Nachbarschaften zu werden.
 
Marion Schmitz-Stadtfeld ist Leiterin der Koordinierungstelle Integrierte Flüchtlingsansiedlung
und des Fachbereichs Integrierte Stadtentwicklung NH. Sie will hunderttausende „NH-Homies“ bauen – vorgefertigte holzgerahmte Hausmodule mit zwei Stockwerken, isoliert und auf Energieeffizienz ausgelegt, und, sehr wichtig, sie können als Studenten- oder sogar Eigentumswohnungen wiederverwendet werden. (Experten erwarten, dass mindestens zwei Drittel der Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehrt sobald der Krieg in Syrien endet.) Diese werden, sagt sie, in Wohngegenden eingebunden.
 
„Es geht um mehr als nur eine Unterkunft zu haben, mehr als nur ein Haus zu besitzen“, erklärt sie. „Man muss auch eine Willkommenskultur entwickeln.“ Und für den Moment sieht es so aus, als würde das passieren.

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