Pop 2019
Autotune, Cancel Culture, Kinderlieder

Ebow
Ebow | Foto (Ausschnitt): © Mirza Odabasi

Wird dieser Tage das alte Jahr zur Tür gebracht, besitzen die gezogenen Resümees besondere Wirkkraft. Immerhin endet mit 2019 eine ganze Dekade. Das neue Jahrzehnt lockt, lächelt, droht. Die Zwanziger des 21. Jahrhunderts! Um den Übergang dahin gut zu erwischen, sollte man wissen, was man hinter sich lässt. Was ist im Ohr, was im Herzen geblieben, welche Debatten wurden geführt – und was kann eigentlich gleich in den Mülleimer?

Von Linus Volkmann

Lautmalerisch muss 2019 noch als Opfer von DEM musikalischen Sound-Trend der Zehner-Jahre gelten: Autotune. Überall Autotune, Autotune, Autotune. Cher, die diesen Effekt vor fast genau 20 Jahren völlig konkurrenzlos mit ihrem Album Believe in die Welt trug, hat übrigens diesen Herbst fünf Konzerte in Deutschland gespielt. Für jenen heute von guten wie schlechten Rappern sowie der Band Deine Mutter verwendeten Stimmeffekt, der ursprünglich nur kleinere Tontreff-Unsicherheiten ausbügeln sollte, schließt sich mit der Welttournee der 73-jährigen ein Kreis. Denn war Autotune die letzten Jahre noch das absolute Must-Have, quasi der heilige Gral des aktuellen Pop-Zeitgeists, spürte man 2019 bereits, dass dieser nun wieder zum Aufbruch drängt. Diverse Produktionen – zum Beispiel von Apache 207, dem unbestrittenen Shooting-Star des Rap-Mainstreams – lassen absehen, dass dieser sehr spezielle Klang bald historisch eine ganz konkrete Phase im Pop markieren wird – und dass jeder, der danach zeitgemäß klingen möchte, den Effekt instinktiv meiden wird.

Divers versus konservativ

Doch im Rap ist noch weit mehr in Bewegung gewesen dieses Jahr und man kann, ohne sich dabei mit naivem Kulturoptimismus in die Tasche zu lügen, fortschrittliche Entwicklungen konstatieren.

Grund dafür dürfte vor allem die noch mal gestiegene Strahlkraft sein, die das Genre erfahren hat. Damit einhergehend strömten neue Ideen, neue Leute ins Bild, gewannen an Einfluss. Das Panorama ist spürbar diverser geworden: Female, non-binary, queer – das mag zwar längst noch nicht Mainstream in der Hip-Hop-Szene sein, aber hier ist ein Zuwachs an Bedeutung zu verzeichnen. Exemplarisch genannt sei die Crew Ostberlin Androgyn, die Göttinger Rapperin Haszcara oder die in München geborene Kurdin Ebow, die es mittlerweile nach Wien verschlagen hat. Der Name von Ebows aktueller Platte K4L lässt sich auflösen mit dem Selbstermächtigungs-Claim Kanak for life, damit knüpft sie an aktuelle Debatten über Herkunft und Identität an. Ein Reader, der zu diesem Thema viel Beachtung 2019 erhielt, trägt den Titel Eure Heimat ist unser Albtraum und wurde unter anderem von der Berliner Journalistin Hengameh Yaghoobifarah herausgegeben. Yaghoobifarah taucht auch in Videos von Ebow auf.
Ebow - K4L (prod. by walter p99 arke$tra) © Problembär Records
Ebow - K4L (prod. by walter p99 arke$tra) © Problembär Records
Man hat es also längst nicht mehr (nur) mit jenem eingesessenen Männerverein zu tun, der seit Jahrzehnten jede homophobe oder misogyne Entgleisung ausschließlich als kostbare Existenzgrundlage einer „authentischen“ Kultur verstanden wissen möchte. Das Lager des Testosteron mag zwar nach wie vor aktiv sein, doch verbal übergriffige Zeilen sowie Künstlerinnen und Künstler wurden 2019 auch in der eigenen Szene nicht mehr so selbstverständlich durchgewunken.
 
Sehr deutlich lässt sich das ablesen an der Konzertabsage, die Kollegah auf seiner aktuellen Tour in Rastatt kassierte. Kollegah lebt von der Provokation – sein Gemeinschafts-Album JBG3 mit Farid Bang hatte 2018 wegen Textzeilen mit antisemitischer Lesart für einen Eklat bei der ECHO-Verleihung gesorgt – in deren Nachklapp der ECHO seine Segel strich. 2019 überwiegt auch bei Kollegah der wirtschaftliche Schaden den Promo-Effekt. Neben abgesagten Veranstaltungen standen weitere, letztlich durchgeführte Auftritte ebenfalls auf der Kippe und wurden von örtlichen Protesten empfangen. Ähnlich erging es Bausa. Aufgrund des Ausfalls eines Headliners (Foals) beim diesjährigen Reeperbahnfestival rutschte der Trap-Rapper ganz oben ins Line-Up. Ins Line-Up einer Veranstaltung, die sich Diversität und vor allem mehr weibliche Teilhabe an der Musikindustrie auf die Fahnen geschrieben hat. Dementsprechend musste das Reeperbahnfestival darauf einen Shitstorm kuratieren, der immer mehr sexistische Textzeilen des auf den ersten Blick eher harmlos wirkenden Künstlers kursieren ließ. Bausas Konzert fand zwar statt, einen fader Beigeschmack bezüglich des Plattenlabels (Warner) und der Veranstaltung blieb dennoch zurück.
 
Ob das Unterbinden von kulturell bedenklichen Äußerungen dabei wirklich erstrebenswert ist, das steht auf einem anderen Blatt und zwar zusammen mit einem der Claims des Jahres: Cancel Culture. Cancel Culture, ein aufgeladener Begriff, der die Popkultur beschäftigte – weit über Hip-Hop hinaus ...

Cancel Culture

Tief recherchierte Dokus, die die Opfer von Übergriffen in den Fokus stellten, machen 2019 aus Künstlern wie Michael Jackson oder R. Kelly das, was sie nun einmal auch waren beziehungsweise sind: Täter. Die #metoo-Debatte konfrontierte die Popmusik. Wie soll man als Musikhörerin und -hörer oder gar Fan auf diese Enthüllungen reagieren? Existiert ein Popsong losgelöst von seinem Interpreten? Gehören alle Jacko-Devotionalien und das musikalische Vermächtnis heute in den Schredder? Und wie viel Vertrauen will man dem Songwriter Ryan Adams noch schenken, dessen fertige Platte dieses Jahr gar nicht erst erschien, nachdem gleich mehrere Missbrauchsvorwürfe gegen ihn an die Öffentlichkeit gelangten? Eine Antwort darauf konnte in den hitzig geführten Diskussionen in den Sozialen Medien letztlich nur jeder für sich selbst finden. Eine universelle Folge der nachträglichen Skandalisierung ist aber auf jeden Fall ein geschärftes Bewusstsein zu dem Thema.
 
Geschärftes Bewusstsein wurde der Popkultur auch abverlangt in der 2019 weiter allgegenwärtigen Auseinandersetzung mit Populismus und dessen Folgen. Rechte Stimmen ignorieren und ihnen so nicht mehr den medialen Raum geben, den sie in den letzten Jahren eingenommen haben – oder doch immer wieder im Netz auf die Barrikaden gehen und mit Hashtags-Aktivismus die eigene Filter-Bubble aufrütteln? Es ist das Jahr eins nach #wirsindmehr, die Lager wirken tiefer gespalten denn je. Sinnbildlich dafür sind die Reaktionen auf Grönemeyers Ansage bei einem Konzert in Österreich, bei dem er sich in Rage brüllte für eine offene Gesellschaft und gegen deren Feinde. Grönemeyers spontane Brandrede (zeitgemäß überliefert in Form eines wackeligen YouTube-Clips, der mittlerweile im Netz gelöscht wurde) wird gleichermaßen gefeiert wie verdammt, einen Austausch kann sie nicht anregen – nur die jeweiligen Lager triggern. Die Ableitung für das neue Jahrzehnt kann nur sein, dass produktive gesellschaftliche Debatten innerhalb der eben selbst schwer populistischen Aufmerksamkeitsökonomie des Internets keine Zukunft besitzen. Mag fatal klingen, die Realität ist es aber trotzdem.

Vertraute Stimmungen

Zurück zur Musik: Der lange Jahrzehnte allen anderen Genres überlegene Rock wirkt heute oft einigermaßen zerrupft und ratlos. Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht trotzdem bemerkenswerte Platten hier entstanden sind. Einen großen Aufschlag hatte beispielsweise Thees Uhlmann. Der ehemalige Frontmann der Band Tomte ist nach einer schöpferischen Pause von sechs Jahren und seinem Überraschungs-Bestseller Sophia, der Tod und ich (Ki-Wi) mit seiner dritten Solo-Platte auf die Bühnen zurückgekehrt. Betont klassisches Songwriting und allgemein eine wertstabile Angelegenheit – damit traf er den Nerv all jener, deren Musikgeschmack nicht den Anspruch besitzt, sich alle paar Jahre neu erfinden zu müssen. Das Album Junkies und Scientologen schaffte es auf Platz zwei der deutschen Charts. Bemerkenswert an einer der relevantesten Platten des hiesigen Rockjahres ist allerdings, dass sich der interessanteste Text an die Rap-Szene richtet – und zwar unter dem Titel Ich bin der Fahrer, der die Frauen nach Hip-Hop-Videodrehs nach Hause fährt. Via Rollenprosa erzählt Uhlmann von einer ebenso bizarren wie realen Welt, in der Frauen als sexy Kulisse dienen und Männlichkeit als konservativer, materialistischer, tribalistischer Chauvi-Horror seinen Wert sucht.
© Power Nap Records
© Power Nap Records

Dass Gitarrenmusik nicht nur männlichen Wiedergängern gehört, lässt sich darstellen an einer der vielleicht schönsten Platten des Jahres. Power Nap, so der Name des zweiten Albums der Wahl-Hamburgerin Ilgen-Nur. Eine Tour im Vorprogramm von Tocotronic hatte 2018 erstmals größere Aufmerksamkeit auf sie gelenkt, ein Jahr später spielte sie nun ihre erste Headliner-Tour. Die Musik bietet eine hiesige Entsprechung zu internationalen Künstlerinnen wie Courtney Barnett, verweist aber auch auf die Blütezeit des schrammeligen Indie-Punks, lässt genauso denken an Built To Spill, Sebadoh wie Bikini Kill. Ein verwaschenes, verschlafenes und trotzdem hochpointiertes Gitarren-Album, das ästhetisch klarstellt, dass nicht alle progressiven Kräfte Rock den Rücken kehren.

Älterwerden in Pop

Ein anderes Phänomen, das sich von der bunten Randnotiz zu einem wirklichen Faktor im Musikbusiness entwickelt, fungiert unter dem Namen Unter meinem Bett (November 2019 erschien der fünfte Teil). Dabei handelt es sich um eine populäre Compilationreihe für smarte Kinderlieder, die Kids und (vor allem) Eltern vor allzu migränehaltigem Gekrähe aus den familiären Endgeräten bewahren möchte. Damit einher gehen Konzerte, die Sonntag vormittags stattfinden, Family-Pop sollte eben immer auch pragmatisch sein. Und Pop als Lebenseinstellung – die Idee ist nicht neu und kommt eben selbst in die Jahre. Und wer sein Leben als Musik-Afficionado vermisst, seit der Nachwuchs da ist, kann hier Gleichgesinnte treffen und die Kids werden mit besserer Musik bespaßt.
© SME
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Auch viele größere Festivals haben ihr Angebot um solche Bühnen erweitert. Mittlerweile ist die Sache so prosperierend geworden, dass immer mehr prominente deutsche Acts auf diesen Samplern und Gigs auftauchen. Wenn beispielsweise die Band Baked Beans in Dosenkostümen über die Bühne albert, dann hat man es mit den Betreibern des renommierten Berliner Indiepop-Labels Staatsakt beziehungsweise mit Musikern von Die Türen zu tun. Interessant besetzt ist das neue Popkasperle-Theater also auf jeden Fall. Ob nun den Kindern wirklich Stücke von Clueso, Andreas Dorau, Von Wegen Lisbeth, Dokter Renz (Fettes Brot) oder Laing immer besser gefallen als die Musik von kommerzieller ausgerichteten Kindergärtnern wie Deine Freunde sei dahingestellt. Einen attraktiven Möglichkeitsraum stellt dieser Trend aber in jedem Fall dar.

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