Elektronische Musik 2019
Globale Themen in lokalen Szenen
2019 fanden weltweite Probleme Einzug in die deutsche Szene: Klimakrise, Verdrängung aus Innenstädten, Israel-Palästina-Konflikt – es wirkte fast, als sei Clubkultur nicht mehr der hedonistische Spielplatz, der sie sein soll. Die musikalischen Trends des Jahres geboten dem jedoch Einhalt.
Von Cristina Plett
Nun ist es vorüber, das Jahr 2019. Einige mögen sagen „Zum Glück!“. Nicht nur, was die gesellschaftspolitische Lage Deutschlands angeht, auch in der Clubkultur in Deutschland geriet Einiges ins Wanken. Bei Clubs und Veranstaltungsindustrie begann sich eine Schieflage abzuzeichnen. In anderen Metiers wurde weitergemacht mit dem, was Clubkultur seit je auszeichnet: Bestehende Normen zu hinterfragen. Und auch etwas Nostalgie durfte nicht fehlen. Anlässlich von 30 Jahren Techno und 30 Jahren Mauerfall wurde groß auf die Nachwendezeit (speziell in Berlin) zurückgeblickt.
Besonders die Fotoausstellung No Photos On The Dancefloor! Berlin 1989 – Today im C/O in Berlin sei hervorgehoben. Wenige Ausstellungseröffnungen verzeichnen wohl so einen Andrang wie diese. Kuratiert von Heiko Hoffmann, Szenelexikon und ehemaliger Chefredakteur des Magazins für elektronische Musik Groove, bot sie einen gut informierten Blick auf die Entwicklung von Clubs und Feierkultur in Berlin seit 1989. Schwarz-weiß-Bilder aus dem Ostberlin der frühen Neunziger, Flyer aus 30 Jahren Clubgeschichte und Fotos von Clubs, die es längst nicht mehr gibt, neben noch bestehenden. Mit der Betonung auf „noch“; denn dies war ein weiteres Thema, das die Szene beschäftigte: Clubsterben.
Clubs in Deutschlands Innenstädten bedroht
Ein dramatisches Wort. Tatsächlich aber schlossen in diesem Jahr in ganz Deutschland einige Clubs: in Berlin Chalet, St. Georg, Arena. In München das (als Zwischennutzung geplante) MMA und Bob Beaman, in Dresden der TBA Club, in Leipzig das Dr. Seltsam. Weitere Clubs wie die seit über 25 Jahren bestehende Distillery in Leipzig oder RAW-Gelände und KitKat sehen ihren Standort bedroht, andere müssen im nächsten Jahr voraussichtlich schließen oder umziehen (so das Loft in Ludwigshafen). Neueröffnungen, um den Verlust auszugleichen, gibt es nicht genug. Die Gründe sind meist nicht auf nur eine Ursache zurückzuführen, dennoch spielen Verdrängungsprozesse oft eine Rolle. Dazu zählen steigende Mieten – ein Problem, was nicht nur Clubs betrifft – sowie gestörte Anwohner. Auch wenn der Club zuerst da gewesen sein mag, wiegt der Lärmschutz höher. Um letzterem entgegenzuwirken, initiierte die Interessenvertretung der Berliner Clubs, die Clubcommission, Ende vergangenen Jahres einen Lärmschutzfonds. Der zeigte in diesem Jahr erste Wirkungen, unter anderem die Berliner IPSE konnte damit eine klangtechnisch effiziente Anlage einbauen. Ebenjene Clubcommission gab im Herbst eine Studie heraus, die die wirtschaftliche Relevanz des Nachtlebens in Berlin untermauerte.Das zeigte Wirkung: Prompt reichten die Bundestagsfraktionen von Linken und Grünen Anträge gegen das Clubsterben ein. Sie forderten unter anderem, Clubs baurechtlich Opern- und Theaterhäusern gleichzustellen. Zudem sollen finanzielle Förderprogramme Clubs bei Schallschutz- und anderen Maßnahmen unter die Arme greifen.
Es gab jedoch auch ohne Politik erfreuliche Neuigkeiten in der gleichen Richtung: In Dortmund eröffnete im November der Tresor.West. Ein Herzensprojekt von Dimitri Hegemann, Betreiber des Berliner Tresors. In Düsseldorf eröffnete der musikalisch experimentierfreudige Salon des Amateurs nach umfangreichen Umbauarbeiten wieder, in Köln feierte im Oktober der neue Club Jaki Einweihung. Und der Golden Pudel Club in Hamburg erweiterte sich um einen neuen Raum für Konzerte und Workshops.
Der Israel-Palästina-Konflikt erreicht die Szene
Der Golden Pudel sah sich im vergangenen Jahr im Auge eines Sturms, der nicht erst seit diesem Jahr die Musikindustrie weltweit gespalten hat: Die Kontroverse rund um die BDS-Bewegung. BDS steht für „Boycott, Divestment and Sanctions“ und ruft aus Unterstützung für Palästina zu Boykotten gegen Israel auf. Auch zu kulturellen: DJs zum Beispiel sollen davon absehen, in Israel zu spielen. International hat der BDS prominente Unterstützende, in Deutschland sieht man in der Bewegung antisemitische Tendenzen. Golden Pudel und ://about blank in Berlin sowie Conne Island in Leipzig – alles drei Clubs, die sich explizit als politisch links verstehen – hatten sich vermehrt gegen die BDS-Kampagne ausgesprochen und zum Teil Künstlerinnen und Künstler ausgeladen, die den BDS unterstützen. Dieser wiederum rief zum Boykott der Clubs auf.Nur ein Beispiel für die Präsenz von globalen Themen in lokalen Szenen. So fand auch der klimapolitische Diskurs breit Einzug in die Szene. Gefühlt jedes große Festival tat kund, was es so macht, um grüner zu werden. Mehr als Pfandbecher und Komposttoiletten waren jedoch selten drin. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, gerade, wenn man bedenkt, dass Festivals an sich eine äußerst unnachhaltige Angelegenheit sind. Für mehrere tausend Menschen wird eigens eine gesamte Infrastruktur aufgebaut und für drei bis fünf Tage genutzt. DJs werden aus allen Teilen der Welt für einen Auftritt von ein bis fünf Stunden eingeflogen. Obendrein stellen Festivals zunehmend eine scharfe Konkurrenz für kleine Clubs dar, was sozial nicht nachhaltig ist.
Ein übersättigter Festivalmarkt
Gleichzeitig ließ sich in diesem Jahr beobachten, dass die zunehmende „Festivalisierung“ der Szene einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat: Der Markt ist übersättigt, erste Festivals gaben auf. Das Plötzlich am Meer und das spanische Into The Valley-Festival wurden abgesagt, die Firma hinter den deutschen Festivals Her Damit und 7001 meldete Insolvenz an und hatte über viele Jahre einige ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht bezahlt. Beim portugiesischen Festival Forte zeichnete sich Ähnliches ab. Die Konkurrenz setzt zudem kleineren Festivals zu: Das Fuchsbau-Festival in Lehrte war entgegen seiner politischen Grundhaltung auf Unterstützung von Sponsoren angewiesen, das Nachtdigital-Festival in Sachsen feierte nach 22 Jahren seine letzte Ausgabe. Apropos Festival: Eines der größten Festivals in Deutschland, die linksalternative Fusion in Mecklenburg-Vorpommern, landete im Mai erstmals auf der Agenda der deutschen Massenmedien. Sie hatte sich an die Presse gewandt, nachdem ihr Sicherheitskonzept überraschend nicht genehmigt worden war. Anders als in früheren Jahren wollte die Polizei eine starke Präsenz auf dem Festivalgelände durchsetzen. Dadurch sah das veranstaltende Kollektiv (der Kulturkosmos e.V.) die Essenz des Festivals – Freiheit und „Ferienkommunismus“ – bedroht. Große Solidaritätsbekundungen sowie eine Diskussion um das Recht auf polizeifreie Räume folgten. Nach Überarbeitung ihres Sicherheitskonzepts konnte die Fusion letztlich jedoch (wie gewohnt) mit minimaler Polizeipräsenz, die jedoch nur außerhalb des eigentlichen Festivalgeländes eingesetzt wurde, stattfinden.Musik für große Bühnen
Die Tendenz zur Festivalisierung schlug sich natürlich musikalisch nieder. Große Festivalbühnen brauchen Tracks, die selbst über lange Distanzen hinweg Stimmung erzeugen. So verwundert es nicht, dass gerade Trance und Breakbeats in Kombination mit hämmerndem Techno die Trends des Jahres waren. Flächige Melodien und fett peitschende Bässe – das findet sich zum Beispiel bei einem der Hits des Jahres, Kisloty People vom dänischen Produzenten Schacke. Veröffentlicht auf Kulør, dem Label der in Berlin lebenden Courtesy, erfuhren sowohl die beiden als auch die Künstlerinnen und Künstler ihres Umfelds einen starken Popularitätsschub.Wie wichtig Labels, Crews und Kollektive geworden sind, lässt sich daran ablesen, dass plötzlich auf der Bildfläche auftauchende Newcomer oft aus solch einem eng gestrickten Netzwerk kommen. Das Berliner Kollektiv No Shade beispielsweise gibt es erst seit zwei Jahren, dennoch war es mit Kikelomo und einem eklektischen Musikmix sogar bei den Feierlichkeiten zu 30 Jahren Mauerfall am Brandenburger Tor vertreten. Die Gruppe organisiert DJ-Workshops, um mehr Frauen, Trans- und Non-Binary-Personen in die Szene zu bringen. Was zu fruchten scheint, wenn man sich andere Newcomerinnen ansieht: DJ Gigola ist Teil des ebenso aus Berlin stammenden Kollektivs Live From Earth Klub. Mit ihren catchy und energetischen Sets war sie in Clubs kreuz und quer durch Deutschland unterwegs. Viel Breakbeat, Bass und Elektro spielt die in Berlin lebende Irin Or:la. Sie ist in diesem Jahr den Schritt von der Newcomerin zur Labelmacherin gegangen und bietet auf ihrem Label Céad noch unbekannten Produzenten eine Plattform. Hervorzuheben ist auch Fadi Mohem, ein junger Produzent aus Berlin. Seine Platten auf den Labels von Ben Klock und Modeselektor demonstrierten staubtrockenen und kohärent umgesetzten Techno.
Musikalisch war 2019 also keineswegs ein schlechtes Jahr, wenn auch viele der tanzflächenorientierten Veröffentlichungen die Neunzigerjahre zitieren. In der DJ-Booth an sich kündigt sich jedoch eine zukunftsweisende Veränderung an: Auflegen via Streaming statt mit mp3-Dateien oder Platten. Der große mp3-Onlineshop Beatport führte im Mai einen Streaming-Service ein, der es in Partnerschaft mit den wichtigsten DJ-Technik-Herstellern erstmals erlaubt, auf dem Equipment seine eigene Musikbibliothek zu streamen. Musik zu kaufen wird überflüssig werden. Das wirft Fragen auf: Werden Labels damit überhaupt noch Umsätze machen? Wovon sollen Produzentinnen und Produzenten dann leben? Wird elektronische Musik funktional und vergänglich, wenn sie nach einer Handvoll DJ-Gigs von der Streaming-Playlist verschwindet? Die neue Dekade wird es zeigen.