Eine Einführung
Reggae in Deutschland

Seeed-Mitglieder Demba Nabé, Frank Dellé und Peter Fox in Saõ Paulo: „Die Sprache der Musik verstehst du überall“ (Foto: José de Holanda)
Seeed-Mitglieder Demba Nabé, Frank Dellé und Peter Fox in Saõ Paulo: „Die Sprache der Musik verstehst du überall" | Foto: José de Holanda

Ob Stars wie Gentleman, international renommierte Sound Systems wie Pow Pow oder weltweit bekannte Festivals wie Summerjam – längst ist Reggae in Deutschland eine Selbstverständlichkeit geworden. In nur drei Dekaden hat sich eine am jamaikanischen Vorbild orientierte Reggae-Kultur in Deutschland etabliert – aber auch unterschiedlichste Abweichungen und Sonderwege.

Bei Hippies als entspannte Musik der „Dritten Welt“ willkommen, bei den Punks als Rebel Music verklärt, beim Schlagerpublikum als karibischer Exotismus gefeiert – zwischen diesen drei Polen spielte sich Reggae in Deutschland Ende der 1970er-Jahre ab.

Aktivisten der Achtziger

Manifestationen einer eigenen Reggae-Kultur waren nicht vorhanden: keine Artists, Produzenten, Sound Systems- also mobile DJ-Teams mit eigener Anlage, Plattenläden und kaum Journalisten, die wirklich Bescheid wussten. Wie hätte das auch anders sein können? Es waren eben nicht karibische Einwanderer, sondern weiße Mittelstands-Kinder, die sich Reggae über die Medien und Tonträger aneigneten und für ihre meist gegenkulturellen Identitätsentwürfe nutzten. Reggae zu spielen – aktiv als Musiker oder passiv mit Schallplatten – konnte nur aus einer Fan-Haltung heraus geschehen.

Zum Glück gab es einige Journalisten und Musiker, die es genau wissen wollten und durch Reisen nach Jamaika oder England Einblick in die Reggae-Kultur gewannen. Diese Aktivisten sollten im Verlauf der 1980er-Jahre dazu beitragen, dass sich erste Ansätze einer Reggae-Kultur in Deutschland etablierten: Bands wie The Vision (Hannover), Herbman Band (Varel) oder Dub Invaders (München), DJ Artists wie Natty U (Dortmund) oder der bajuwarische Rebell Hans Söllner (Bad Reichenhall), Sound Systems wie Conquering Sound (Hannover), Festivals wie Summerjam (Köln), erste Plattenläden und Vertriebe wie Irie Records (Münster) oder Fotofon (Aachen).

Generation Gentleman

Pow Pow
© Pow Pow Movement
Angekommen ist Reggae in Deutschland allerdings erst in den 1990er-Jahren mit der zweiten Generation von Aktivisten und Hörern, die über digitalen Dancehall, Hip-Hop und Jungle zu Fans wurden. Die Codes und Rituale, Techniken und Styles der Reggae-Kultur mussten erst mal erlernt, erprobt und mühsam kulturell konfiguriert werden. Wegweisend waren dabei Sound Systems wie Pow Pow (Köln) oder Silly Walks (Hamburg), wo der Kölner Gentleman erste Erfahrungen am Mikrofon sammelte.

Neben musikalischem Talent und seiner Beharrlichkeit verdankt sich der erst regionale, dann nationale und schließlich internationale Erfolg Gentlemans vor allem seinem Streben nach Authentizität. Den „original style“ aus Jamaika nicht bloß zu kopieren, sondern zu verinnerlichen, war von Anfang an das Ziel. Seine Glaubwürdigkeit beruht auf der perfekten Beherrschung der symbolischen Codes der Reggae-Kultur, die er sich bei langjährigen Jamaika-Aufenthalten angeeignet hat.

Die bedingungslose Identifikation mit jamaikanischer Musikkultur wurde von den meisten Weggefährten Gentlemans geteilt und schließlich zum Modell für weite Teile der deutschen Reggae-Szene. So unterschiedliche Artists wie Dr. Ring-Ding, Martin Jondo, Jahcoustix oder Cornadoor, Sound Systems wie Soundquake, Supersonic oder Sentinel, Produzenten wie Ingo Rheinbay (Pow Pow) und Pionear (Germaican Records) haben sich bis heute auf den „original style“ zwischen Roots und Dancehall eingeschworen.

Breites Spektrum

Seeed
© Warner Music
Doch auch progressive Künstler haben sich seit den späten 1990er-Jahren Gehör verschafft. Der afrodeutsche Artist Patrice kultivierte zuerst einen freigeistigen Singer-Songwriter-Stil, um im Laufe seiner Karriere das stilistische Spektrum von Reggae um Pop, afrikanische Rhythmen und Soul zu erweitern. Jenseits der Reggae-Szene haben Rhythm & Sound aus Berlin derweil mit ihrer Synthese aus Dub und Techno für eine international bewunderte Innovation des Reggae-Grooves gesorgt. Ähnliche Beachtung fand auch die elfköpfige Dancehall-Kombo Seeed, die sich in nur fünf Jahren zur weltweit eindrucksvollsten Live-Band an der Schnittstelle von Dancehall, Reggae, Pop und Hip-Hop entwickelte. Ebenso wie bei Patrice geht es bei Seeed nicht mehr darum, die Reggae-Kultur in Deutschland zu etablieren – sie ist es bereits. Woran übrigens auch ein Magazin wie Riddim erheblichen Anteil hat.

So gewinnen Seeed und vorübergehend auch Jan Delay oder D-Flame um die Jahrtausendwende mit deutschsprachigen Texten, Humor und fettem Sound eine neue Generation von Hörern. Reggae auf Deutsch löst vor allem das Verständnisproblemvon Patois-Lyrics [Patois ist neben dem offiziellen Englisch die Sprache der Jamaikaner: Ein Gemisch aus afrikanischen Dialekten, versetzt mit portugiesischen, spanischen und englischen Ausdrücken] und bringt demnach die Inhalte der Texte deutlicher zum Vorschein. In der Folge von Seeed und Jan Delay reflektieren nun Artists wie Nosliw, Mono & Nikitaman, Maxim (alle auf Rootdown Records), Ganjaman oder Ronny Trettmann in ihren Texten vor allem deutsche Realitäten und gegenkulturelle Lebensentwürfe. Sie nähern sich dabei dem thematischen Spektrum „normaler“ Pop-Songs an, ohne den musikalischen Code von Reggae zu vernachlässigen. Reggae in Deutschland hat sich in alle Richtungen ausgebreitet.

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