Interview mit Barbara Yelin
Was ein Comic alles kann
Barbara Yelin, die 1977 in München geborene Comiczeichnerin, studierte Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Für Ihren neuen Comicroman „Irmina“, der den widersprüchlichen Werdegang einer jungen Deutschen zu Zeiten des Nationalsozialismus erzählt, wurde sie 2015 mit dem Preis für die beste deutsche Graphic Novel bei den PENG Awards und dem bayerischen Kunstförderpreis für Literatur ausgezeichnet. Beim Toronto Comic Arts Festival 2016 wird Yelin die englische Übersetzung von „Irmina“ präsentieren. Vor ihrer Abreise sprach sie mit dem Goethe-Institut Toronto über den kreativen Entstehungsprozess von „Irmina“, über die Bedeutung von Farbe bei der Illustration, und ihre Rolle als Autorin.
In vielen Interviews betonen Sie, dass zu Beginn Ihrer Arbeiten eine gute Frage steht, die Sie über Jahre begleitet. Welche Frage steht hinter Irmina?
Die Frage lautet: „ Wie konnte sich eine Frau wie „Irmina“ im Verlauf ihres Lebens so stark von ihren ursprünglichen Zielen und Träumen entfernen und sich derart verändern?“ Denn als ich den Karton mit Briefen, Aufzeichnungen und Fotos von meiner Großmutter fand, blieb genau diese Frage für mich ungelöst. Ich konnte zwar durch das vorhandene Material einiges rekonstruieren, dennoch fragte ich mich permanent, wie so etwas in dieser Form passieren konnte. Zum einen das Wegschauen der Mitläufer im Nationalsozialismus vor der Judenverfolgung, aus Angst und Bequemlichkeit, aber auch aus Profitdenken, und zum anderen die Sprachlosigkeit: Dass Dinge, die man wusste oder halbwusste, einfach nicht besprochen wurden, um sich damit nicht auseinander setzen zu müssen.
Also sind Wegschauen und Schweigen zwei Schlüsselelemente in Ihrem Comicroman. Wie haben Sie es geschafft, beides so eindrucksvoll sichtbar zu machen?
Sichtbar macht das erst einmal ganz klar die gründliche, historische Recherche, um nachzeichnen zu können, was in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland passiert ist. Die Recherche basiert, neben den existierenden Tagebucheinträgen und Aufzeichnungen, auf historischen Quellen, wie Fachliteratur und Lebenserinnerungen dieser Zeit. Ich wollte hauptsächlich Einblicke in die Alltagssituationen der deutschen Bevölkerung bekommen, um so detailreich wie möglich das Leben dieser Zeit zu verstehen. Vom Zeichnerischen war es dann der Versuch, die äußerliche Enge der Diktatur, sowie gleichzeitig die eigene Verengung im Kopf von Irmina darzustellen. Das habe ich versucht mit Hilfe einer Verengung der Kästchen, der sogenannten Panels, sichtbar zu machen. Im Verlauf des Buches habe ich dafür immer stärkere Anschnitte gemacht, die deutlicher und dunkler ausgefüllt werden. Alles was Irmina noch sieht, kommt durch die Ritzen des Wohnzimmervorhanges oder durch den Volksempfänger, durch den nur die gefilterte Welt der Hitlerreden zu Irmina durchdringt. Auf den großen Doppelseiten dazwischen sieht der Leser, was eigentlich passiert, was sichtbar wäre, und wovor weggeschaut wird: zum Beispiel die brennende Synagoge in den Novemberpogromen.
Was bedeutet Farbe in ihren Zeichnungen?
Vor Irmina habe ich fast immer in unterschiedlichen Graustufen mit Bleistift gearbeitet. Der Zusatz der Farben in diesem Buch war sehr bewusst. Erstens wollte ich einen Farbraum schaffen, in dem nicht nur die düsteren, sondern gerade am Anfang auch die freieren Momente erzählt werden können. Zusätzlich habe ich Farben als Akzentfarben genutzt. Am Anfang der Geschichte nutze ich den Akzent Blau für die Freiheit und die Möglichkeiten, die Irmina offen stehen. Im Mittelteil dann die Akzentfarbe Rot für die im Nationalsozialismus vorherrschende Gewalt, aber auch für das Blut, das seitens der Nazis vergossen wird, und die Schuld, die die Deutschen tragen. Im dritten und letzten Teil des Buches dann die Farbe Türkisgrün, die vor allem den Wendepunkt der Geschichte darstellen soll, verknüpft mit der Hoffnung auf ein besseres Leben für Irmina am türkisfarbenen Meer von Barbados. Zusätzlich gibt es in dem Buch viele Räume, in denen man sich selbst viele Fragen stellt, leidet, und Irmina, für die man anfangs hofft, in Frage stellt und kritisiert. Ich wollte dem Leser diese wertenden Entscheidungen nicht abnehmen und stets einen gewissen Denkraum lassen. Ich glaube, das ist etwas, was der Comic kann.
Auf Einladungen des Goethe-Instituts haben Sie bereits gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen der Kunstszene in Kairo, Delphi, Surabaya und auf Bali zeichnerisch in Comictagebüchern festgehalten. Verstehen Sie sich als Beobachter oder als eine Art Kommunikator?
Eine spannende Frage. Wahrscheinlich bin ich beides. Wenn ich unterwegs bin und etwas zeichnerisch festhalte und erzählen möchte, bin ich erst einmal Beobachter. Der Prozess des Zeichens setzt vor allem eine sehr intensive Beobachtungszeit voraus, in der dem Zeichner viel mehr offenbart wird, als wenn er ein Foto macht oder einfach an einem Ort vorbei geht. Wenn ich die Zeichnungen im Anschluss entsprechend für das Internet oder einen Blog vorbereite, ist das natürlich eine Art der Kommunikation. Es ist aber trotzdem weniger eine journalistische Arbeit, da es mir weniger um die ganz großen politischen oder gesellschaftliche Brennpunkte geht, sondern oft eher um die kleinen Bilder, die Nebendarsteller, die sich oft erst zeigen, wenn man hinter die eigentlichen Situationen blickt. Denn ich glaube, dass die kleinen Geschichten manchmal gerade die großen Zusammenhänge gut abbilden können.
Auf dem Comic Arts Festival Toronto präsentieren Sie die englische Übersetzung von Irmina. Eröffnet Ihnen der Weg in den englischsprachigen Raum neue Perspektiven?
Das würde ich unbedingt bejahen, denn englische Übersetzungen von deutschen Comics gibt es gar nicht so viele. Und dass es dann doch Werke in den amerikanischen oder kanadischen Raum schaffen, ist sehr selten und empfinde ich als großes Glück. Natürlich gibt es sehr viele Comicinspirationen aus dem nordamerikanischen Raum, ohne die es den Comic in Deutschland in dieser Form nicht geben würde. Dass ein Comic wie Irmina, der sich intentsiv mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzt, in die englische Sprache übersetzt wird, ist für mich doppelt besonders. Vor allem, da das Feedback in England, wo die englische Version von Irmina bereits vertrieben wird, klug und differenziert ist und die Herausforderung der ambivalenten Gefühle des Lesers über Irmina wirklich verstanden wird.