Berlinale-Blogger 2017
„In finsteren Zeiten bleibt der Film prophetisch“

Der Berlinale-Bär im Sony Center am Potzdamer Platz
Der Berlinale-Bär im Sony Center am Potzdamer Platz | © Berlinale

Das brasilianische Kino gewinnt zunehmend an Präsenz auf Leinwänden außerhalb Brasiliens. Festivals spielen eine entscheidende Rolle in diesem Prozess der Internationalisierung, sowohl was die Verbreitung neuer Titel angeht, als auch als Türöffner für die Zusammenarbeit mit Produzenten und Vertriebskanälen.

Eduardo Valente, Brasilien-Delegierter der Berlinale, spricht im Interview über die Bedeutung der Festivals für das brasilianische Kino und das Bild, das man sich im Ausland von Brasilien macht.

Herr Valente, welche Rolle hat ein Delegierter der Berlinale? Was bedeutet es, diesen Posten in der Nachfolge des 2016 verstorbenen José Carlos Avellar zu übernehmen?

Ein Delegierter ist eine Art Vorposten der Information. Also, das Festival möchte gut informiert sein über alles, was im Film einer bestimmten Region oder eines bestimmten Landes passiert, und versucht dazu mit Leuten zu arbeiten, die Zugang zu diesen Informationen haben, die man um Hilfe bei Kontakten, Empfehlungen, und um Informationen selbst bitten kann. Das geht in beide Richtungen: um Informationen aus dem Festival in der lokalen audiovisuellen Szene zu verbreiten, und um als Festival Informationen von dort zu bekommen. Die Herausforderung, diesen Posten zu übernehmen, den Avellar so lange Zeit innehatte, besteht vor allem darin, das qualitative Niveau seiner Arbeit zu halten, sowohl von der Tiefe der Informationen und der Kontakte her, die er im Lauf seines Lebens gesammelt hat, als auch in Bezug zu seiner absolut ethischen und eleganten Haltung, für die er von Partnern im Festival und in Brasilien geschätzt wurde. Auch aus diesem Grund nimmt man so etwas nur in dem Wissen an, dass man dies nicht ersetzen, sondern nur fortsetzen kann.

Das brasilianische Kino hat in den letzten Jahren eine zunehmende Internationalisierung erfahren, sowohl über Koproduktionen als auch durch Aufführungen im Ausland. Inwiefern haben Festivals zur Verbreitung des brasilianischen Films beigetragen? Wie wichtig ist die Berlinale in diesem Zusammenhang?

Festivals sind heutzutage ein wichtiges Element der Internationalisierung von Filmen. Ein Festival wie die Berlinale, bekanntermaßen eins der drei wichtigsten Festivals der Welt, ist entscheidend für die Hoffnung der Filmschaffenden, ein internationales Publikum und entsprechende Märkte zu erreichen. Daher ist es extrem bedeutsam und wichtig, dass wir dieses Jahr nicht weniger als neun brasilianische Spielfilme im Festivalprogramm haben, davon einen im Hauptwettbewerb, nämlich Joaquim von Marcelo Gomes, sowie drei Kurzfilme, einen davon ebenfalls im Wettbewerb.

Welche Rolle spielt die nationale Filmagentur Ancine bei der Internationalisierung des brasilianischen Films?

Ancine versucht, Bedingungen dafür zu schaffen, sowohl auf rechtlicher Ebene als auch durch finanzielle Unterstützung, dass brasilianische Filmschaffenden einen besseren und geschmeidigeren Zugang bekommen zu einem extrem umkämpften Markt, wie es der audiovisuelle heutzutage ist. Indem sie Koproduktionsvereinbarungen mit einzelnen Ländern aushandelt und bilaterale Förderprogramme auflegt, erleichtert sie Koproduktionen. Und mit dem Programm zur Unterstützung der brasilianischen Teilnahme an internationalen Festivals und von Projekten brasilianischer audiovisueller Werke in internationalen Labors und Workshops schafft sie bessere Bedingungen für die Teilnahme von Filmschaffenden und ihren Werken an zahlreichen Festivals in der Welt.

Spiegelt sich die Teilnahme brasilianischer Filme auf internationalen Festivals in der kommerziellen Verbreitung außerhalb von Brasilien wider?

Ganz zweifellos. Natürlich hängt es von dem jeweiligen Film ab und von seinem Erfolg auf den entsprechenden Veranstaltungen, aber wenn wir die jüngeren Beispiele von Que horas ela volta? (Der Sommer mit Mama) von Anna Muylaert oder Aquarius von Kleber Mendonça Filho betrachten, so hat ihnen die Teilnahme am Sundance Festival und an der Berlinale beziehungsweise in Cannes erst die Sichtbarkeit gegeben, die ihnen schließlich Märkte in Dutzenden Ländern erschlossen hat.

Welches Brasilien kann das Publikum auf internationalen Festivals sehen? Sind Stereotypen wie Favela, Gewalt, Sinnlichkeit inzwischen überwunden?  Welches Brasilien wird die Berlinale in dieser Hinsicht zeigen?

Ich weiß nicht, ob das Wort „überwunden“ das richtige ist. Es ist eher die Frage, in welchem Kontext so etwas steht. Natürlich schafft der internationale Markt oft prägende Bilder bestimmter Regionen der Welt, als eine Form, sie zu identifizieren, und reduziert sie schließlich darauf. Doch das kann auch positiv gewendet werden, wenn eine Veranstaltung bereit ist, weiter zu gehen und zu erkennen versucht, wie man dieses Bild neu denken oder mit anderen Fragen in Dialog treten lassen kann. So gesehen haben wir auf der diesjährigen Berlinale zum Beispiel Filme, die sich mit der Gewalt in Brasilien auseinandersetzen, aber unter historischen Aspekten, die dazu dienen können, die Ursprünge unseres Landes besser zu begreifen, oder vor völlig anderen Hintergründen, beziehungsweise an anderen Orten. Auch Sinnlichkeit ist ein Thema, in anderen Filmen, doch weniger „ausbeuterisch“ sozusagen, sondern mehr als Teil der Erfahrung der Protagonisten. Man kann also mit solchen Dimensionen in Dialog bleiben, ohne sich nur darauf zu beschränken.

Welche Perspektiven hat aus Ihrer Sicht das brasilianische Kino angesichts der aktuellen politischen Lage in Brasilien und in der Welt?

Das Kino ist, wie im Grunde genommen jede Kunst, notwendigerweise ein Spiegel seiner Zeit und verweist gleichzeitig auf das, was kommt. Insofern glaube ich, dass in wirren und traumatischen Zeiten wie jetzt, Kunst an Bedeutung und Relevanz gewinnt. Natürlich geschieht dies nicht immer ohne Konfrontation zwischen dem, was der Künstler sagt, und dem, was das politische Establishment hören und sagen möchte. Aber ich glaube, im Zeitalter der Digitalisierung sind die Produktionsmethoden des Kinos erschwinglicher geworden, so dass filmschaffende Künstler auch unter politisch sehr restriktiven Verhältnissen ihr kreatives Potenzial ausschöpfen können, wie auch auf der Berlinale am Beispiel des iranischen Films Taxi gezeigt wurde, der vor zwei Jahren den Goldenen Bären erhielt. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, ich sei optimistisch in diesem in vielerlei Hinsicht sehr düsteren Zustand unserer Welt, aber ich bin auch alles andere als apokalyptisch gestimmt. Das Kino wird weiterhin Zeuge sein und bleibt weiter prophetisch, auf unterschiedlichen Ebenen, und wird uns weiterhin großartige Filme zeigen, an die wir uns noch lange erinnern werden.

Eduardo Valente © Foto: Eduardo Valente Eduardo Valente Foto: Eduardo Valente
Eduardo Valente studierte Film an der Universidade Federal Fluminense in Rio de Janeiro. Er führte Regie in mehreren Kurzfilmen, unter anderem Um sol alaranjado, ausgezeichnet mit dem Ersten Preis des Wettbewerbs Cinéfondation für studentischen Film der Internationalen Filmfestspiele von Cannes, sowie in dem Spielfilm No meu lugar (2009). Er war zudem Herausgeber der Zeitschrift Cinética, Kurator von Filmschauen und Festivals und bis Juni 2016 internationaler Assessor der brasilianischen Filmagentur Ancine. Neben seiner Tätigkeit als Brasilien-Delegierter der Berlinale ist er Kurator des Wettbewerbsprogramms des 49. Festivals für brasilianischen Film von Brasília.



 

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