Berlinale-Blogger 2017
Identität
Die Frage nach Identität ist aktueller denn je, viele Filme auf der Berlinale 2017 handeln von der Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle, dem Selbstverständnis und der Abgrenzung des Ichs zu den Anderen. Wie unterscheiden sich die Eindrücke der Berlinale-Blogger, die ja selbst aus verschiedenen Kulturkreisen kommen?
Nathanael Smith – Vereinigtes Königreich: Der Wettbewerbsfilm Wilde Maus von und mit Josef Hader zeigt eine Szene, die jeder Kritiker wohl nachfühlen kann: Der Musikkritiker Hader wird nach langjähriger Anstellung bei einer Wiener Zeitung gefeuert. Er reagiert pathetisch: „Ich bin jetzt seit zwanzig Jahren Musikkritiker. Ich kann sonst nichts“. Der Film verliert sich bald in einer substanzlosen Geschichte mit zu vielen Handlungssträngen. Die beschriebene Szene wollte mir jedoch nicht mehr aus dem Kopf gehen. In einer Welt, in der eine Heerschaar von Online-Rezensenten (umsonst) schreibt, wird man als Kritiker offenbar nicht mehr gebraucht. In diesem perfekt dargestellten Moment sah ich auch etwas von mir selbst auf der Leinwand. Und das war ein ganz und gar trauriger Anblick.
Philipp Bühler – Deutschland: Von dieser Szene in Josef Haders Wilde Maus fühlte ich mich persönlich auch betroffen: Ein Wiener Musikkritiker wird entlassen, daraufhin fährt seine Identität Achterbahn. Damit können sicher auch Menschen anderer Berufsgruppen etwas anfangen. In Filmen werden Identitäten andauernd bedroht, erschüttert, gewechselt oder – meist weniger befriedigend – gefestigt. Ein Kino ohne das Thema Identität ist eigentlich schwer vorstellbar. Noch dazu liegen solche Fragen im Wechselspiel von Schauspiel, Rolle und Publikum begründet, also im Medium selbst. Ob der wunderbare, sehr spezielle österreichische Humor von Josef Hader auch in nicht-deutschsprachigen Ländern verstanden wird, ist allerdings schwer zu sagen.
Camila Gonzatto – Brasilien: Was macht die Identität eines Filmschaffenden eigentlich aus, ab wann ist man offiziell Filmschaffender? Viele Filmschaffende sehen den Kurzfilm als Einstieg in die Branche. Andere nutzen ihn als Freiraum für Experimente in Sachen Filmsprache. Die diesjährigen Wettbewerbsfilme in der Sektion Berlinale Shorts umfassen zwei Bereiche und ihre Themen reichen von einer Animation mit Katzen, die Laborversuchen unterzogen werden, über die brasilianische Brega-Musik bis hin zu Handyaufnahmen, die bei einem Rodeo in Argentinien entstanden sind. Im Kurzfilm Everything (einer irisch-US-amerikanische Koproduktion) von David O'Reilly werden all diese Möglichkeiten kondensiert und in einem Universum dargestellt, in dem alles miteinander verbunden ist, egal ob Atom, Tier, Planet oder der Mensch selbst. Der Film ist Teil eines interaktiven Videospiels, das 2017 herausgebracht wird.
Ahmed Shawky – Ägypten: Der Film The Other Side Of Hope handelt von Identität – und ist ein Beleg dafür, welches Geschenk die Kunst des Filmemachens doch ist: Der Regisseur Aki Kaurismäki schafft es immer wieder aufs Neue, sein Publikum zu überraschen und zu berühren. Hier hat er sich mit der Flüchtlingsfrage auseinandergesetzt und was dabei herausgekommen ist, ist so ganz anders als all das, was wir in den vergangen Jahren zu diesem Thema zu sehen bekommen haben.
Sarah Ward – Australien: Ein Leuchten in den Augen kann viel über eine Person aussagen – wer sie ist und wer sie sein will. Es kann eine glühende Entschlossenheit ausstrahlen, neue Wege zu beschreiten,und gleichzeitig verborgene Ängste, Gedanken und Gefühle erkennen lassen. All dies lässt Lolita Chammahs Gesicht in Laura Schroeders Film Barrage erkennen. Hier spielt sie eine Frau, die ihre Tochter (Thémis Pauwels) zehn Jahre lang bei ihrer eigenen Mutter (Isabelle Huppert) hat aufwachsen lassen. Aus ihrem Gesicht spricht zum einen die Hoffnung auf ein neues Leben und eine neue Beziehung zu ihrer Tochter, gleichzeitig jedoch die Scham über frühere Fehlentscheidungen. Die Tatsache, dass Chammah auch im wirklichen Leben Hupperts Tochter ist, hebt dieses Familiendrama auf eine neue Ebene, in dem eine Tochter sich von ihrer Mutter löst und gleichzeitig versucht, selbst ihre Identität als Mutter – und ihre eigene Identität – zu finden.
Yun-hua Chen – China: Die eigene Identität wird maßgeblich durch die Beziehungen mit anderen geprägt, deshalb führen viele Filmemacher ausführliche Dialoge mit anderen, wenn sie über existenzielle Fragen nachdenken und ihr Verständnis vertiefen wollen. So wie Hui-chenHuang, die in Small Talk die Gedankenwelt ihrer Mutter kennenlernen möchte, um auch ihr eigenes Handeln zu reflektieren und die gegenseitige Verbindung wieder herzustellen. In Lissette Orozco’s Dokumentarfilm Adriana’s Pact wird die Frage nach der Vergangenheit der Lieblingstante der Regisseurin zur Frage nach der eigenen Herkunft und zum Nachdenken darüber, wie man mit dem Gedanken leben kann, dass das Böse Teil von einem ist. Die existenzielle Frage von Call Me by Your Name ist wiederum sexueller Natur: Wen lieben wir und wie können wir das Phänomen der Liebe mit all seinen Höhen und Tiefen als natürlichen Teil unseres Lebens akzeptieren?
Andrea D’Addio – Italien: Es geht um die Identität von Elio (dargestellt von Timothée Chalamet), dem Protagonisten im Film Call Me by Your Name von Luca Guadagnino. Er ist 17 und hat eine Freundin, mit der er den Sommer an einem norditalienischen See verbringt, wo auch Elios Familie jedes Jahr Urlaub macht. Als Elio bemerkt, dass er sich zu dem amerikanischen Studenten hingezogen fühlt, der seinem Vater, einem Professor, bei einigen wissenschaftlichen Arbeiten unterstützt, lässt er sich nicht davon erschüttern: Er verleugnet sein Verlangen nicht, weder gegenüber seinen Eltern noch gegenüber seiner absoluten Liebe. Mit offenen Armen gibt er sich allen Reizen der Jugend hin, mit der ganzen Last der Traurigkeit, die eintritt, als sich die beiden voneinander verabschieden müssen.
Julia Thurnau – Norwegen: Eine Mehrheit der Filme wurde von weißen, wohlsituierten Männern produziert – jener Volksgruppe, die gerade an den Schalthebeln der Macht sitzt. Viele ihrer Filme erzählen von Identität. Jene weißen, privilegierten Männer reflektieren sensibel über das Universum (From the Balcony), stellen sich vor, wie Frauen sich gegen das patriarchalische Establishment zur Wehr setzen (Tiger Girl) oder imaginieren, wie abwesende Väter ihren Kindern gegenüber Rechenschaft ablegen (Helle Nächte). Eine Minderheit von Filmen ist von „den Anderen“, also Frauen, Queers, all denjenigen, die nicht ohne Weiteres an die großen Budgets kommen, oder die die herrschenden Strukturen hinterfragen. Für diese Gruppe gibt es einen eigenen Preis, den Teddy Award.
Dorota Chrobak – Polen: Ein Künstler kann alles in ein Kunstwerk verwandeln. Im wahrsten Sinne des Wortes: Alles. Was passiert also, wenn ein Künstler sich entscheidet, mit einem anderen Künstler unter einem Dach zu leben? Gehören seine Gedanken und Gefühle immer noch ihm selbst oder kann es sein, dass die andere Person sie an sich reißt? Serce miłości (A Heart of Love – Director's Cut), der zweite Film von Łukasz Ronduda, zeigt auf eine brillante und unterhaltsame Weise die Fallen einer Beziehung zwischen zwei ichbezogenen Künstlern. „Du hast meinen Traum geklaut!”, schreit Zuzanna Wojtek in dem Film an. Im ersten Augenblick klingt das wie ein Witz. In Wirklichkeit ist es aber der verzweifelte Schrei einer Person, die langsam ihre Identität und Unabhängigkeit verliert. Der größte Alptraum eines Menschen? Du schaust in den Spiegel und siehst dort ein fremdes Gesicht.
Pablo López Barbero – Spanien: Der Film Una Mujer Fantástica beschreibt den Kampf einer Person, die als „anders“ eingestuft wird, gegen eine vorurteilsbehaftete, konservative und feindselige Gesellschaft. Die Protagonistin ist eine transsexuelle Frau, die den Erniedrigungen durch die Familie ihres kürzlich verstorbenen Freundes ausgeliefert ist. Trotz der Angriffe entwickelt sie sich zu einer mutigen und selbständigen Person. Zum Ende des Films ist sie stärker als vorher, sicherer und besser dazu in der Lage, ihren Platz in der Welt zu finden. Aber war es wirklich nötig, dass sie so leidet? Leider ja