Flaneure
Spaziergang mit Schildkröte

Comeback des Flaneurs
Comeback des Flaneurs | Foto (Ausschnitt): © cédric chabal - Fotolia.com

Im aktuellen Nachdenken über Urbanität erlebt das Idealbild eines Bürgers sein Comeback, für den die Stadt mehr ist als eine Konsumzone, nämlich eine faszinierende Quelle der Inspiration. Eine kurze Einführung in die Welt der Flaneure.

London, Mitte des 19. Jahrhunderts. In den späten Nachmittagsstunden eines Herbsttages sitzt ein Mann hinter dem großen Fenster eines Straßencafés und beobachtet die Straße. Die Dunkelheit bricht herein, Gaslaternen werden entzündet und immer mehr Passanten gehen vorbei.
Der Mann versucht, die Geschichten der vorbeieilenden Menschen zu entziffern, erkennt im Schimmer des Gaslichts Geschäftsleute, Adlige, Angestellte und Arbeiter. Nach einiger Zeit fällt ihm ein unheimlich aussehender alter Mann auf. Er folgt ihm. Der Alte wirkt seltsam getrieben, durcheilt Straßen, Plätze und Läden, stundenlang. Bis sie beide, Verfolger und Verfolgter, plötzlich wieder vor dem Café stehen, an dem alles seinen Anfang nahm.

Der Mann in der Menge

Der Beobachter im Café, die Stadt als Bühne und ein Getriebener – Edgar Allen Poe hat sich diese merkwürdige Geschichte ausgedacht. Sie erschien 1840 unter dem Titel Der Mann in der Menge (The Man of the Crowd). Schließlich stellt sich der Erzähler dem Alten offen in den Weg. Doch dieser ignoriert ihn, läuft einfach weiter. Hier wurde jemand buchstäblich von der Großstadt absorbiert. Und es ist eigentlich zwecklos, ihm zu folgen und zu versuchen, ihm sein Geheimnis zu entlocken. „Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann der Menge. Es wäre vergeblich, ihm zu folgen, denn ich werde weder ihn noch sein Tun tiefer durchschauen“, heißt es am Ende. Mit dieser Erzählung betrat der Flaneur die Welt der Literatur.

Der Pariser Literat und Dandy Charles Baudelaire war begeistert von Poes Geschichte. Er etablierte den Flaneur als literarisches Sujet, das von der Faszination für eine vollkommen neue Erfahrung von Stadt handelt. Plötzlich war es möglich, sich selbst frei zu entfalten und dabei gleichzeitig Teil einer Menge zu sein, einer Menschenmasse, die unheimlich sein kann, bevölkert von entwurzelten, getriebenen Wanderern, gleichzeitig aber auch Quelle und Ermöglicher eines neuen Abenteuers: der Anonymität und Individualität eines unbeaufsichtigten Lebens, wie es nur die Metropole erlaubte. Und in genau so einer Welt lebte Baudelaire – im Paris des 19. Jahrhunderts.

Es war die Geburtsstunde der Straße als öffentlichem Raum. Plötzlich wurde es attraktiv, die Wohnung zu verlassen und sich unter die Menge zu mischen. Der Gestank verschwand in einer neu angelegten Kanalisation, Trottoirs schützten vor Schlamm und ein Gewirr aus kleinen Gassen war von großen Schneisen durchzogen, den Boulevards, die perspektivische Durchblicke durch lange Straßenfluchten ermöglichten. Außerdem entstanden sogenannte Passagen, luxuriöse überdachte Einkaufswege, durch die der Pariser Bürger auch dann schlendern konnte, wenn es ihm draußen zu schmutzig war.

Flanieren – die Stadt entziffern

1830 gab es bereits 21 dieser überdachten Einkaufsstraßen, die sich nach und nach zu einem weitläufigen Fußwegsystem zusammenschlossen. Es war ein Eldorado für Dandys, gebildete Bürger ohne finanzielle Sorgen, die sich ihre Zeit mit Herumschlendern vertrieben. Und das durchaus mit einer politischen Note: als Protest gegen die Arbeitsteilung, die Spezialisierung, den Großstadtstress, wie er damals mit Beginn der Industrialisierung bereits massiv auf die Menschen wirkte. Um 1840 gehörte es anscheinend auch zum guten Ton – so jedenfalls kolportiert es später der Philosoph Walter Benjamin –, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen.

Benjamin wollte jedoch im Typus des leicht blasierten Großstadtspaziergängers eigentlich weit mehr entdecken als nur den gelangweilten Poser. Von Baudelaire übernahm er den Begriff des Flaneurs, des dandyhaften Großstadtbewohners, dessen vermeintliches zielloses Umherschweifen weit mehr ist als eine großbürgerliche Attitüde. In seinem Passagen-Werk, einer Sammlung von Notizen, entwickelte er das Konzept der flanerie als einer besonderen Art urbaner Wahrnehmung. Ähnlich wie dem Erzähler in Poes Mann in der Menge ist es dem Flaneur möglich, den urbanen Alltag zu entziffern wie einen geheimen Code. Hinter jedem Passantengesicht, an jeder Straßenecke oder Häuserwand könnte ein Geheimnis verborgen sein. Er ist ein Meister sogenannter Physiologien, fein ausgearbeiteter Charakterstudien von Stadtbesuchern, wie sie zu Baudelaires Zeiten in den intellektuellen Pariser Kreisen en vogue waren.

Der Flaneur ist, mit anderen Worten, ein hochsensibler Literat. Und als solcher ist er übrigens – anders als der Dandy – auch eigentlich gar nicht interessiert an anti-kapitalistischem Gestus. Im Gegenteil: „Als Flaneur begibt er sich auf den Markt; wie er meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden.“ Die gesellschaftliche Grundlage der flanerie ist der Journalismus, so Benjamin.

Baudelaires Comeback

Heute, da ist sich jedenfalls die Autorin Hannelore Schlaffer sicher, wäre ein Flaneur nach Benjaminscher Konzeption nicht mehr denkbar. In ihrem Essay Die City heißt es, ein arroganter Einzelgänger, „der als Beobachter auftrat, um beobachtet zu werden, würde entweder provozierend oder lächerlich wirken“. Die Innenstädte, einst Heimat der Flaneure, sind zu sogenannten Citys mutiert, und deren Lieblingsorte wie Museen, Bibliotheken und Passagen längst vom Klima des Konsums beherrscht.

Doch vielleicht ist ja schon längst ein neuer Typus Flaneur angetreten, unsere Großstädte zu bevölkern. Flaneure, für die großstädtische Arroganz oder Blasiertheit keine Rolle spielt, das Beobachten, Entdecken und Gestalten urbanen Lebens aber eine umso größere Bedeutung hat. Sei es, hässliche Brachen in Gärten zu verwandeln – Urban Gardening – oder Stromkästen in Streetart-Kunstwerke. Oder sei es, ganz in der Tradition der Stadtliteraten des 19. Jahrhunderts, auszuschwärmen und urbanes Leben wiederzuentdecken – als „wahre Wanderer“, die „den Ballons gleich reisen“, wie es in einem Editorial des Magazins Flaneur heißt. Das Zitat stammt aus Charles Baudelaires berühmtem Großstadtlyrik-Band Die Blumen des Bösen.
 

Die Macher des Berliner Kulturmagazins „Flaneur“ arbeiten auf Initiative des Goethe-Instituts Montréal an einer Ausgabe, die sich der Rue Bernard widmet. Das Heft erscheint im Juni 2014.

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