Ballade
Montréal als Vorort
Montréal, durch die Geister der Vergangenheit verfolgt und im Zuge der Ideologie des Fortschritts, die sich unter anderem durch das Vordringen der Vororte in die Stadtviertel äußert, vergisst und verflüchtigt sich. Historische und kritische Ballade mit dem flanierenden Journalist und Historiker Jean-François Nadeau.
Montreal kehrt trotz seiner Insellage dem Wasser den Rücken und ist nach innen gerichtet. Will man es erschließen, muss man sich durch das Autobahnlabyrinth aus den fünfziger Jahren hindurchfinden. Man stellte sich einst vor, wie von den auf Betonpfeilern ruhenden Hochstraßen das Auto raubvogelgleich auf die Arbeitsstätten der emsigen werktätigen Bevölkerung herniederschwebte. Montreal hatte seine Straßenbahnschienen vergraben lassen, doch bringen sie sich jeden Frühling wieder in Erinnerung, wenn durch den winterlichen Frost das alte Metall an die Oberfläche der großen Verkehrsadern dringt und deren Asphalt durchbricht.
Montreal ist aus einem anderen Holze geschnitzt als Quebec City. Es besitzt nicht den glatten Charme und die plastische Schönheit, die der Stolz der Städte des sogenannten Weltkulturerbes sind. Elegante Häuserzeilen, filigrane Straßen, schmiedeeiserne Gitter wird man in Montreal nicht finden, von einem kleinen Teil der Altstadt abgesehen, der einst zum Schutz gegen die Angriffe der Indianer von einer Holzpalisade umgeben war.
Alte Dinge, alte Menschen – seit langem wollte sich Quebec so den Besuchern aus Nordamerika präsentieren. Aus Gewohnheit identifiziert sich das Tal des Sankt-Lorenz-Stroms weiterhin mit dieser Betrachtungsweise, gefällt sich in dieser morbiden Tradition, welche die Vergangenheit als Mumifizierung ansieht, die das Bild eines Landes so erhalten soll, wie es den anderen gefällt, ein Land, das nur zu diesem Zweck das unsere wird. An den Ufern des Stroms „darf nichts sterben, sich nichts ändern“, bemerkte Louis Émond in seinem Roman Maria Chapdelaine. „Vergangenheit, unser Herr und Gebieter“ erklang es nach ihm von den Kanzeln.
Im Schatten der Hochhäuser, die dort errichtet worden, wo sich einst Irokesenstämme am Fuß des Mont Royal versammelten, sind von dieser Vergangenheit längst sämtliche Spuren getilgt. Und weiter geht es damit zu einer Zeit, in der man unablässig von dem Bewusstsein für unser Kulturerbe spricht, eine bequeme Idee, die die Menschheit gerne zum Vorwand nimmt, um sich mit Geschichte und Gemeinschaftsleben nicht näher auseinandersetzen zu müssen.
In Montreal sind die Fassaden der alten Häuser an den Einkaufsstraßen entstellt. Das ist gut zu erkennen, wenn man beim Spaziergang auf die andere Straßenseite blickt: unter dem Druck großer und kleiner Geschäfte wurde dem Alten Neues aufgepfropft. Dadurch sind die Fassaden von unterschiedlichstem Umfang, springen mal zur Straße vor oder weichen zurück, woraus sich eine stets ungewisse Perspektive ergibt.
Nach dem Krieg waren jene Viertel mit ihren niedrigen Häusern aus den finsteren Zeiten der Kolonie der Stadtverwaltung ein Dorn im Auge. Der Anblick dieser schiefen Häuser mit ihren Blech-oder Schieferdächern wollte nicht recht zu der glorreichen Vergangenheit passen, die man im Namen der Zukunft dieser Metropole heraufbeschwören wollte. In einem Nachrichtenbeitrag aus jener Zeit beschreibt der Bürgermeister Jean Drapeau, wie er gedenkt, das Herz der Altstadt von Montreal mit einer Schnellstraße voller flitzender Autos zu durchschneiden. Dieser Plan wurde nicht verwirklicht. Andere Stadtviertel hingegen wurden vollständig abgerissen.
In Montreal wurden Zehntausende auf diese Weise erst vertrieben und dann vergessen. Und das Abreißen nimmt kein Ende. Der Boulevard Saint-Laurent, einstige Hochburg des Burlesque-Theaters in Amerika, ist heute nur noch eine unansehnliche Aneinanderreihung von Baulücken und leer stehenden Häusern, zwischen denen zugegebenermaßen einige neue, abweisende Gebäude der sogenannten internationalen Architektur emporragen, jener nämlich, in der sich überall auf der Welt das Geld zu Hause zu fühlen scheint. Das Gleiche gilt für die Rue Sainte-Catherine, wo zusammen mit anderen Gebäuden das Spectrum, die sagenumwobene Musikhalle, abgerissen wurde, bevor überhaupt feststand, ob an dessen Stelle in Kürze etwas anderes errichtet werden würde. Im selben Häuserblock verschwand das Restaurant Anatolia, dessen süßes, einfach serviertes Gebäck ich so liebte.
Im Viertel Griffintown versinken ehemalige Fabriken und alte Häuser nacheinander im Schutt. Unlängst hatte ich dort den Film La femme image, ein surrealistischer Film meines Freunds und Fotografen Guy Borremans, gesehen. Wenn ich jetzt zu Fuß durch diese Gegend streife, kann ich nicht einmal mehr erkennen, wo die Filmvorführung einst stattgefunden hatte. Montreal wird mir langsam fremd, während immer mehr Projekte wie Griffintown geboren werden, ohne dass es eine Gesamtperspektive gäbe.
Das Leben von Montreal verlagert sich an die Randbezirke, ohne dass man diese wirklich anerkennt. Die herablassende, distanzierte Weise, mit der man das Leben in Longueuil, Laval, Brossard, Repentigny und anderen unter der Vorwahl 450 zusammengefassten Vororten darzustellen pflegt, will uns nicht erkennen lassen, was auf Montreal zukommt.
Am Fuße der Champlain-Brücke, die, so scheint es, zusammenzubrechen droht, wurde in nur wenigen Monaten inmitten der Äcker ein Vorort aus dem Boden gestampft. Früher standen dort steinerne Bauernhäuser mit ihren Winkeldächern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, deren Bewohner vergeblich versucht hatten, sich gegen das britische Empire aufzulehnen. Diese Häuser wurden abgerissen oder verlassen und durch ganze Häuserzeilen in viktorianisch inspiriertem Stilgemisch ersetzt, wo Kunststein, Aluminium, Reproduktionen griechischer Statuen und Renaissance-Schornsteine regieren. Hier triumphiert die Kollagen-Ästhetik.
So ist auch Montreal geworden. Wie in allen Großstädten jedoch glaubt man auch hier weiterhin, dass dieser Gürtel nur aus seinen eigenen Auswüchsen besteht und nicht wirklich mit der Stadt verwachsen ist.
Die Vororte erscheinen heute gleichwohl wie das Paradebeispiel einer bewussten Verdrängung, dank derer sich Disneyland in einer ganzen Stadt hat breitmachen können. In Montreal wie auch anderswo triumphiert die Zerstreuungskultur der Massen, von der schon Walter Benjamin sprach.